Der Umgangston verschärft sich: Ukrainische Flüchtlinge hoffen auf die Friedenskonferenz – kritisieren aber auch Selenski

Sie haben Angst vor dem Krieg, und immer mehr vor dem eigenen Staat. Geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer in Luzern senden «Friedensbotschaften» Richtung Bürgenstock.

Eigentlich ist das hier eine ganz normale Sprachschule. Smarttalk, so heisst sie, liegt in der Luzerner Altstadt. Normalerweise nehmen vorwiegend Schweizerinnen und Schweizer hier Unterricht, sie lernen Spanisch und Italienisch für die nächsten Ferien, es gibt Wein-Abende und Bruschetta-Kurse. Mit dem 24. Februar 2022 hat sich das verändert. Zu den anderthalbtausend Leuten, die bei Smarttalk Kurse belegen, kamen seither 700 Ukrainerinnen und Ukrainer hinzu.

Zuerst bedeutete das: Chaos. Doch mittlerweile haben sich Lehrpersonen finden lassen, und die Stundenpläne haben sich eingependelt. Und mehr als das: Smarttalk ist nicht mehr nur eine Sprachschule, die man für wenige Stunden die Woche besucht. Sie hat sich zum Lebensmittelpunkt zahlreicher geflüchteter Menschen entwickelt. Sie kommen, um Deutsch zu lernen, und bleiben, um sich zu unterhalten oder sich für Spaziergänge zu verabreden. Das Schicksal hat sie auf den drei Stockwerken dieses Luzerner Altstadthauses zusammengeführt.

Sie wollen etwas zur Friedenskonferenz beitragen

So kommt es auch, dass die Stimmung eher einem Klassenlager gleicht. Oder einem Sprachaufenthalt im Zwischenjahr. Die Menschen hier, die meisten in ihren 20ern, einige in ihren 40ern und 50ern, tragen ihre Rucksäcke über der einen Schulter, stehen im Gang, umarmen sich zur Begrüssung und lachen laut. Vom Krieg, der zweitausend Kilometer östlich im Gang ist, merkt man auf den ersten Blick wenig.

Auf den zweiten Blick aber schon. Im Treppenhaus und den Gängen der Sprachschule hängen insgesamt vierzehn Bilder an den Wänden. Sie zeigen ukrainische Schülerinnen und Schüler der Sprachschule, daneben handgeschriebene «Friedensbotschaften»*, so nennen sie die Zeilen, auf Deutsch und Ukrainisch. Am Wochenende treffen sich auf dem Bürgenstock die Mächtigen der halben Welt, um den Frieden in der Ukraine zu besprechen. Die Bilder mit den Botschaften sind der einzige Weg für die geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer, irgendetwas beizutragen.

Oleksandra schreibt, alle Ukrainer verstünden, welche Verantwortung auf ihrem Präsidenten lastet, und wünscht ihm «Kraft, Standhaftigkeit und Unbeugsamkeit des Geistes».
Oleksandra schreibt, alle Ukrainer verstünden, welche Verantwortung auf ihrem Präsidenten lastet, und wünscht ihm «Kraft, Standhaftigkeit und Unbeugsamkeit des Geistes». Bild: Dominik Wunderli (Luzern, 12. 6. 2024)
Anastasiia schreibt: «Sehr geehrter Herr Präsident, [...] mögen Ihre Bemühungen um Frieden, Stabilität und Sicherheit erfolgreich sein.»
Anastasiia schreibt: «Sehr geehrter Herr Präsident, […] mögen Ihre Bemühungen um Frieden, Stabilität und Sicherheit erfolgreich sein.» Bild: Dominik Wunderli (Luzern, 12. 6. 2024)

Anastasiia wünscht sich eine Zukunft «voller Licht und Hoffnung». Anna fordert zusätzliche militärische Unterstützung für ihre Heimatstadt Charkiw. Daria bewundert Präsident Selenskis «Fürsorge für unser Volk». Iryna stellt sich ein Leben vor, in dem ihre Kinder aufwachsen können, ohne sich im Bunker verstecken zu müssen. Lilya will endlich wieder Wassermelone in Cherson essen. Und alle wünschen sich auf die eine oder andere Weise ein schnellstmögliches Ende des Kriegs.

Lilya wünscht sich «greifbare Ergebnisse und Fortschritte nach der Friedenskonferenz».
Lilya wünscht sich «greifbare Ergebnisse und Fortschritte nach der Friedenskonferenz». Bild: Dominik Wunderli (Luzern, 12. 6. 2024)
Victoriia fragt sich, wie sie schreibt, «was die Schweizer so Besonderes in uns sehen, das sie veranlasst, so offen zu sein und sich um uns zu kümmern».
Victoriia fragt sich, wie sie schreibt, «was die Schweizer so Besonderes in uns sehen, das sie veranlasst, so offen zu sein und sich um uns zu kümmern». Bild: Dominik Wunderli (Luzern, 12. 6. 2024)

Aber es gibt auch kritische Voten, die sich direkt an Präsident Selenski richten. Sie verstecken sich mal mehr, mal weniger offensichtlich in Sätzen wie:

«Ich wünsche Ihnen einen klaren Verstand, ein offenes Herz, Widerstandsfähigkeit und zuverlässige Menschen um Sie herum.»

«Bitte geben Sie den Menschen die Möglichkeit, an dem Ort und auf die Weise nützlich zu sein, wo sie dies am besten können.»

«Ich wünsche Herrn Selenski Gesundheit und eine sorgfältige Auswahl seines Teams. Mehr Fachleute.»

«Die Menschen werden sich nicht aus Angst an die Gesetze halten, sondern nur dann, wenn sie freiwillig Dankbarkeit und Respekt für den Staat verspüren.»

«Herr Präsident! Bin ich ein Flüchtling oder eine Bürgerin?»

«Was führte dazu, dass die Ukraine zu einem schwachen Staat wurde und einen Angriff zuliess? Wer wird dafür verantwortlich gemacht?»

Sie hätten sich mit der offenen Kritik etwas zurückgehalten, sagen die Ukrainerinnen und Ukrainer auf den Gängen. In den Gesprächen untereinander reden sie freier, sprechen über Korruption und neue Gesetze. Es wird klar: Die zu Kriegsbeginn fast unerschütterliche Unterstützung Selenskis bröckelt.

Vor wenigen Wochen hat die ukrainische Regierung ein neues Wehrpflichtgesetz erlassen und bekannt gegeben, sie werde einige der Grundrechte aus der Europäischen Menschenrechtscharta aussetzen. Das ist nach Artikel 15 der Charta erlaubt, wenn «das Leben der Nation» durch Krieg bedroht wird. Ukrainer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren müssen sich registrieren lassen und können ab 25 Jahren eingezogen werden.

Wladislaw schreibt in seiner Friedensbotschaft, es gelte nicht für die Vergangenheit zu kämpfen, sondern für die Zukunft, «einschliesslich eines neuen Staatssystems und einer neuen Staatsphilosophie».
Wladislaw schreibt in seiner Friedensbotschaft, es gelte nicht für die Vergangenheit zu kämpfen, sondern für die Zukunft, «einschliesslich eines neuen Staatssystems und einer neuen Staatsphilosophie». Bild: Dominik Wunderli (Luzern, 12. 6. 2024)

Zu diesen Männern gehört theoretisch auch der 23-jährige Geschichtsstudent Wladislaw, der nun bei Smarttalk Deutsch lernt. Als Jugendlicher wurde er aber wegen seiner Sehschwäche von der Militärregistrierung ausgeschlossen. Er stammt aus Wowtschansk nahe Charkiw, unweit der russischen Grenze. Die aktuelle Frontlinie verläuft durch seine Heimatstadt, entlang des Flusses trennt sie den Ort entzwei. Wladislaw floh mit seiner Mutter und Grossmutter via Russland in die Schweiz.

Er traut sich, mit Namen und Gesicht hinzustehen, und sagt: «Kriege werden nicht mit Kämpfen beendet, sondern mit Gesprächen.» Das zeige die Geschichte. «Wir können der Ukraine nur helfen, wenn wir am Leben bleiben. Wir sollten selbst entscheiden dürfen, auf welche Art wir das tun. Sonst sind wir nur eine weitere Nummer in der Todesstatistik.»

Die anderen Ukrainerinnen auf den Gängen sehen es ähnlich. Der Umgangston verschärfe sich, berichten sie. Diejenigen Bürger, die in der Ukraine geblieben sind, werfen den Geflohenen vor, ihr Land zu verraten. Regierungsnahe Personen schüren diese Ansichten. Jüngst forderte die einflussreiche ukrainische Journalistin Natalia Moseichuk alle Männer auf, in den Krieg zu ziehen. Gleichzeitig ist ihr erwachsener Sohn in Deutschland in Sicherheit. Das war ein Skandal, sagt eine Sprachschülerin, die lieber anonym bleiben möchte. «Alle haben darüber geredet. Und gesagt: In diesem Krieg müssen wohl nur die Armen kämpfen.»

Die Ukrainerinnen in Luzern sind hin- und hergerissen zwischen Kritik an der eigenen Regierung und dem Wissen, dass Selenski am Beginn des Kriegs 2014 keine Schuld trägt, er war damals noch nicht Präsident. Und sie wissen auch: Wenn niemand die Ukraine an der Front verteidigt, gibt es bald keine Ukraine mehr. Aber sie befürchten, die Regierung könnte weitere Gesetze erlassen, um sie dafür zu bestrafen, dass sie gegangen sind. «Jetzt haben die Menschen nur noch Angst», sagt eine Sprachschülerin. «Davor, in den Krieg zu ziehen – und vor dem eigenen Staat.»


Erschienen am 15. Juni 2024 in den Zeitungen von CH Media.