Eine umtriebige Kulturstiftung will ein vom Aussterben bedrohtes Bündner Bergdörfchen retten. Die Idee: Anstatt für den schwindenden Schnee sollen die Menschen hierherkommen, um Geschichten zu lauschen.
Im kleinsten Dorf des Bündnerlands entsteht gerade der höchste 3D-gedruckte Turm der Welt. Geschweifte Säulen werden sich bald dreissig Meter himmelwärts winden, mitten aus Mulegns, einem 14-Seelen-Dörfchen im Val Surses.
DIe Säulen sollen an die Kreationen der Zuckerbäcker erinnern, jenen jungen Bündnern, die vor zweihundert Jahren in ihren Heimatdörfern keine Perspektive hatten. Sie wanderten aus, zu Fuss oder zu Pferd, und versuchten ihr Glück in den grossen Städten Europas. Einige von ihnen kamen in der Fremde dank ihrer Torten, Crèmeschnitten und Kaffeehäusern zu Reichtum. Vor lauter Heimweh kehrten viele von ihnen aber irgendwann nach Hause zurück. Hier liessen sie sich herrschaftliche Villen bauen, die bis heute das Bild so manches Bündner Bergdorfs prägen.
Der Weisse Turm von Mulegns soll nun ihrer Kühnheit und ihrem Erfindergeist huldigen – und wird mehr als nur Aussichtspunkt sein. Voraussichtlich ab September sollen hier Kunst ausgestellt, Theater aufgeführt und alten rätoromanischen Heimwehmärchen gelauscht werden können. Er wird der weltweit erste seiner Art sein, zusammengesetzt aus hunderten Einzelteilen, gefertigt vom Roboterarm eines 3D-Druckers. Kostenpunkt: etwas über vier Millionen Franken.
Dabei liess bis vor kurzem nichts hier erahnen, dass «Mulenns», so spricht man es aus, bald einen Weltrekord aufstellen würde. Das Dorf kennt man höchstens vom Vorbeifahren. Wer über den Pass ins Oberengadin will, muss hier durch. Aber niemand hält je an.
Mulegns besteht aus einer Kirche und ein paar Häusern entlang der einzigen Strasse, die über den Julierpass führt. Sie sind mal in besserem, mal in jämmerlichem Zustand, viele stehen leer. Unter den vierzehn Menschen, die hier noch leben, gibt es ein einziges Kind, der Rest sind Landwirte und Rentnerinnen.
Der einzige Grund, warum die Autos und Lastwagen hier immerhin abbremsten, war ein Engpass an der Strasse. In der Kurve zwischen der Weissen Villa und dem Roten Haus, wie die Einheimischen sie nennen, schrammten regelmässig Lastwägen an den Häuserwänden. Sie hinterliessen Schäden, die sich nicht zu flicken lohnten.
Bis jetzt. In einer spektakulären, zwei Millionen Franken teuren Aktion wurde die Weisse Villa im Sommer 2020 acht Meter zur Seite geschoben, um Platz zu machen für eine breitere Strasse. Die Villa ist ein Steinbau mit Jahrgang 1857, dem man seine einstige Herrschaftlichkeit nur mit Fantasie noch ansieht. Bauen lassen hat ihn der aus Bordeaux heimgekehrte Zuckerbäcker Jean Jegher nach den Plänen des damaligen Stadtarchitekten.
Die Verschiebung der 1800 Tonnen schweren Villa dauerte ein ganzes Jahr. Zuerst musste der Boden rundherum abgetragen werden, dann stellte man sie auf Gleise, auf denen sie langsam, ganz langsam zur Seite geschoben wurde. Das war die einzige Alternative zum kompletten oder teilweisen Abriss. Heute ist die Strasse selbst mit Lastwagen bequem passierbar. Und in die Villa sollen bald ein Café und eine Zuckerbäckerausstellung einziehen.
Wer vom Weltrekord-Turm aus dem 3D-Drucker reden will, muss auch von der Verschiebung der Zuckerbäcker-Villa reden. Die beiden Projekte sind über eine umtriebige Bündner Kulturinstitution untrennbar miteinander verbunden. Und es gibt ein drittes Riesenprojekt im Bunde: Die Sanierung des zerfallenen Post Hotels Löwen, nur eine Bergbachbreite von der Weissen Villa entfernt.
Giovanni Netzer will Mulegns retten
In diesem Hotel nächtigten Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Touristen auf dem Weg nach St. Moritz. Darunter waren der Maler Albert Schweizer, der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen oder die britische Kronprinzessin Mary samt ihrem Gefolge. In den Stallungen von Mulegns wechselten sie ihre Pferdegespanne und feierten rauschende Feste im berühmten blauen Löwen-Saal. Es war die Blütezeit des Bergdorfes: Um 1900 lebten 150 Menschen hier, die von der Landwirtschaft und vom Tourismus lebten.
Mit der Eröffnung der Albula Bahnlinie 1903 verloren aber viele von ihnen ihre Existenzgrundlage. Die Bevölkerungszahl verringerte sich dramatisch. Der Hotelbetrieb kam über die folgenden hundert Jahre zum Stillstand. Zuletzt wurden nur noch einzelne Betten geboten.
Nun findet der Löwen zurück zu seiner alten Noblesse, dank zahlreicher Privatpersonen und Stiftungen, die das Vorhaben mit sechseinhalb Millionen Franken förderten. Seit Anfang Juli empfängt das Hotel wieder Gäste.
Der Turm, die Villa, das Hotel: Die drei Projekte sind gleichermassen teuer wie extravagant. Und sie gehen alle auf denselben Mann zurück: den Bündner Theatermann, Theologen und Kunsthistoriker Giovanni Netzer. Ein ruhiger Mann mit freundlichen Augen, der den Ruf hat, nur gross denken zu können, niemals klein. Er hat es sich zum Ziel gemacht, die Geschichte von Mulegns zu erzählen. Er baut den Turm, verschob die Villa und sanierte das Hotel, um das halbtote Dörfchen wiederzubeleben. Es ist Mulegns› letzte Chance.
Die Stiftung Origen und das Bündnerland
Im Kanton Graubünden wissen fast alle, wer Giovanni Netzer ist. Vor rund zwanzig Jahren hat er die Stiftung Origen gegründet – ausgesprochen «Oriitschen», rätoromanisch für «Ursprung» – die sich zur Bündner Kulturinstitution entwickelt hat. Mittlerweile beschäftigt die Stiftung jährlich 250 Menschen.
Origens Kerngeschäft ist das Festival Cultural, das mit Musiktheater und Tanz jedes Jahr in der umfunktionierten Burg des Dorfes Riom stattfindet. Ebenfalls bekannt ist der Rote Theaterturm, den die Stiftung 2017 auf den Julierpass gestellt hat. Diesen zehneckigen Holzbau liess Giovanni Netzer von Tänzerinnen und Künstlern des Wiener Staatsballetts, der Pariser Oper oder des St.Petersburger Mariinsky-Theaters bespielen. Das Konzept: anmutige Kultur-Spektakel vor roher Bergkulisse.
Gemäss eigenen Angaben investiert Origen rund fünf Millionen Franken pro Jahr in Aufführungen und Bauvorhaben. Geld, das sie von Förderern, Mäzenen, Kulturstiftungen und weiteren Akteuren wie der Bündner Kantonalbank oder der Schweizer Berghilfe erhält.
Und nun also ein neuer Turm. Wiederum für fünf Jahre befristet, diesmal nicht rot, sondern weiss. Und nicht aus Holz, sondern aus Beton, in exklusiver Zusammenarbeit mit der ETH. Zurzeit lagern die Einzelteile des Weissen Turms in einer Fabrikhalle in Savognin, wo sie der Reihe nach zusammengemörtelt werden. Dieser Tage werden die ersten Säulen nach Mulegns transportiert und auf das Fundament gesetzt. Im Frühherbst will Giovanni Netzer das Zuckerbäcker-Denkmal feierlich eröffnen.
Wird er halten, was er verspricht: Mulegns zu retten?
Den Sprung in die Moderne schaffen
«Wir machen Kultur nicht in erster Linie, um irgendetwas zu retten», sagt Netzer. «Sondern um Geschichten zu erzählen, Orte zu schaffen und Sinn zu stiften.» Schon als Junge haben ihn die Legenden des Surses-Tals fasziniert, in dem er aufgewachsen ist. Also ging er nach München, um Theater zu studieren. Und blieb zehn Jahre. Dann zog es ihn zurück in sein Heimatdorf Savognin. Ein moderner Heimwehbündner.
Das Theater ist sein Kernanliegen. Origen zeigt an seinem Festival Cultural fast nur Uraufführungen, schafft ständig Neues. Alleine dieses Jahr gehen dreizehn neue Stücke über die Bühne. Alles andere seien positive Nebeneffekte. «Ein gutes Kulturprojekt, das ist mir persönlich wichtig, bringt einen Mehrwert für viele», sagt Netzer. Will heissen: für den Tourismus im Kanton, für die Innovation beim Bau – und für die Menschen im Tal.
«Mulegns und andere Dörfer im Oberen Surses haben in den vergangenen Jahren viele Einwohner verloren. Wir befinden uns in einer neuen Abwanderungswelle. Sie geht vielleicht nicht bis Paris, aber sie geht bis Zürich. Und wir haben uns gefragt: Was können wir tun, damit das Leben hier weiterhin inspirierend ist?»
Das Obere Surses soll den Sprung in die Moderne schaffen. Basierend auf dem, was schon da ist: die Bergwelt und ihre Historie. Vielleicht ist das Giovanni Netzers grösstes Talent. Er erkennt eine gute Geschichte, und weiss sie zu erzählen.
Aber wollen auch alle zuhören?
«SRF bi de Lüt» widmete Mulegns und seiner Rettung eine sechsteilige Serie. Hier kommen auch Bündnerinnen und Bündner zu Wort. Die meisten äussern sich wertschätzend, auch solche, die in Mulegns wohnen. Sie sehen Chancen in Origens Projekten und sind froh, dass sich jemand um das Dörfchen kümmert. Es gibt aber auch ausführliche Porträts einer dreiköpfigen Bauernfamilie und einer anderen Bewohnerin, die mit der Stiftung und ihren Millionenausgaben nichts anfangen können.
Man erhält den Eindruck, dass sie sich überfahren fühlen. Ist ja auch verständlich: In Mulegns passieren grosse Dinge in kurzer Zeit. Da kommt jemand mit wahnwitzigen Ideen und einer Menge Geld. Und realisiert Projekte, an die man nicht glaubt.
Natürlich muss die Stiftung erst noch beweisen, wie das klappen soll, das mit der Dorfrettung. Das sieht auch Giovanni Netzer so. «Aber einfach die Flügel hängen lassen und zusehen, wie es mit Mulegns bergab geht?» Nicht sehr vielversprechend. Origen wolle die Kreativität ankurbeln und Menschen zusammenbringen, die Ideen für die Zukunft des Dorfes entwickeln. «Und wenn das die Abwanderung bremst oder sogar Zuwanderung begünstigt: umso besser.»