Fünf Jahre lang hat Luzia Tschirky für SRF aus Russland, der Ukraine und Belarus berichtet. Nun hat sie ein Buch geschrieben – und macht sich selbstständig. Porträt einer Ausnahmejournalistin.
«Ich habe gespürt, die Erinnerungen würden mich einholen. Irgendwann, in einem falschen Moment.» Luzia Tschirky blickt in ihr eigenes Gesicht auf dem Einband ihres Buches. Es liegt vor ihr auf dem Tisch, zwischen den Seiten lugen Post-its hervor. «Wann hätte ich dieses Buch geschrieben, wenn nicht jetzt? Ganz ehrlich: vermutlich gar nie.»
Die ehemalige Moskau-Korrespondentin sitzt im Kulturlokal Kreuz in der Solothurner Altstadt, bald beginnt ihre Lesung. Der Saal ist noch leer, aber er wird sich bis auf den letzten Platz füllen. Die Menschen kommen, um zu hören, was Luzia Tschirky in Russland, Belarus und der Ukraine erlebt hat.
Sie kennen sie als das Gesicht, welches den seit 1945 grössten Krieg in Europa in die heimischen Stuben brachte. Sie kennen ihre Analysen und Beiträge aus der «Tagesschau», der «Rundschau» und dem «10 vor 10». Sie haben ihre Reportagen aus Isjum gesehen. Aus Butscha. Aus Cherson. Das nun erschienene Buch geht nochmals tiefer. In ihren Reportagen ist Luzia Tschirky Journalistin. In ihrem Buch ist sie zusätzlich Mensch.
So nah dran wie sonst nie
Ohne Vorwort schmeisst sie einen in die frühen Morgenstunden des 24. Februars 2022, als Russland in die Ukraine einfällt. Sie war zufälligerweise auf Reportage in Kiew und hatte geplant, nach zehn Tagen in ihre Wohnung nach Moskau zurückzukehren. Doch alles kommt anders. Sie wird in dieser Nacht zur Kriegsreporterin wider Willen.
Das Buch endet genau so abrupt, wie es anfängt: Ohne Epilog reisst Luzia Tschirky einen im Dezember 2022 wieder hinaus. Sie sitzt im sechsten Monat schwanger in der polnischen Hauptstadt Warschau, weil sie nicht mehr in die Ukraine reisen darf. Das Schweizer Arbeitsrecht verbietet es, Schwangere in ein Kriegsgebiet zu schicken.
Davor und dazwischen nimmt sie ihre Leserinnen so nah mit ins Geschehen, es ist, als würde man sie wie einen Schatten begleiten. Als wäre man zu Gast an ihrer Hochzeit im Sommer 2019, wo die Kriegsschiffe auf dem Fluss vor dem Standesamt das Unheil ankünden, das zu diesem Zeitpunkt niemand sehen will. Als sässe man mit ihr in Luftschutzkellern, als blickte man mit ihr auf Massengräber, als lernte man mit ihr, sich in zerbombten Städten zu orientieren.
Man fährt mit ihr an ausgebrannten Autos vorbei, in denen Wirbelsäulen auf dem Fahrer- und Beifahrersitz liegen. Man sorgt sich mit ihr um ihr Kamerateam, um ihre Freunde und deren verschleppte Verwandten. Und im Gegenteil zu ihr sorgt man sich auch um Luzia Tschirky selbst. Zum Beispiel dann, wenn sie zum wiederholten Mal von vermummten und schwer bewaffneten Polizisten mitten auf der Strasse aufgegriffen und in einen Kastenwagen gesteckt wird.
«Luzia, hast du keine Angst?»
Schreiben kann eine heilsame Wirkung haben. Das ist keine gefühlte Wahrheit, das ist bekannt aus der Traumatherapie. Es hilft, sich selbst besser zu verstehen, und alles, was passiert ist. Beim Schreiben findet man Worte für Ungesagtes und Unsagbares, diffuse Gefühle bekommen eine Struktur. Gefühle, die einen einschränken, wenn sie zu lange unterdrückt werden. Aber: Die Konfrontation mit Erlebtem schmerzt, schlimmstenfalls durchlebt man es immer und immer wieder.
Wenn Luzia Tschirky erklärt, warum sie dieses Buch geschrieben hat, spricht sie zuerst von ihrer ukrainischen Freundin Katja. Katja, ebenfalls Journalistin, stammt aus Donezk. Sie floh 2014, als die russische Armee in die Ostukraine einmarschierte und die Städte Donezk und Luhansk besetzte. Zehn Jahre später, zum Zeitpunkt des Grossangriffs, befand sie sich in Mariupol. Der Krieg hat ihr Leben, wie das unzähliger weiterer Ukrainerinnen und Ukrainer, auf brutale Weise in ein Vorher und ein Nachher zerschlagen.
«Katja ist keine, die vor irgendwas zurückschreckt», sagt Luzia Tschirky. «Wirklich nicht.» Und dann nochmals, mehr zu sich selbst: «Wirklich nicht. Aber als ich ihr von meiner Idee erzählte, ein Buch zu schreiben, fragte sie: ‹Luzia, hast du keine Angst?›»
Angst?
Vor Bomben, die vom Himmel fallen, vor verminten Wohnhäusern, vor willkürlichen Gerichtsprozessen, vor Folter und gewaltsamem Tod: sicher. Aber vor einem Buch?
«Katja hat Angst, den Horror nochmals an sich ran zu lassen», sagt Tschirky. «Sie weiss, sie sollte die Erinnerungen aufarbeiten. Aber sie schiebt alles von sich weg.» Ihre eigenen Erlebnisse seien keinesfalls vergleichbar mit denen ihrer Freundin, sagt sie, «um Himmels willen». Das betont sie immer wieder, wenn sie von denen spricht, die im Krieg alles verloren haben. Von den heimatlosen, verwundeten, verwitweten, misshandelten, missbrauchten und getöteten Menschen.
Aber sie spürte, dass sie mit ihren eigenen Erfahrungen aufräumen müsse, wenn sie diesen Menschen die Aufmerksamkeit geben will, die sie verdienen. Wenn sie nicht abstumpfen will. Im Flugzeug sollte man ja auch zuerst sich selbst die Sauerstoffmaske aufsetzen, und dann erst anderen helfen. Kurz nach der Geburt ihrer Tochter im Frühling 2023 verfasste sie ein erstes Manuskript.
Die Balance zwischen Professionalität und Empathie
Luzia Tschirky wusste schon mit 19 Jahren, dass sie Russlandkorrespondentin werden will. Anders als viele meinen, hat sie keine osteuropäischen Wurzeln, ihr Nachname gehört einem alten Ostschweizer Geschlecht an. Sie besuchte Moskau zum ersten Mal als Delegierte der Europäischen Jugendpresse, die sie an einer Konferenz zur Medien- und Meinungsäusserungsfreiheit vertrat. Sie lernte einheimische Jungjournalisten kennen – und mit Russland ein Land, das in jedem Sinne anders ist als die Schweiz. Das war es, was die Sarganserin faszinierte.
Um ihren Traum zu verwirklichen, hat sie stets mehr gemacht, als von ihr erwartet wurde. Wenn sie etwas anpackte, tat sie das gründlich. Sie amtete im Vorstand der Jungen Journalisten Schweiz und gründete die Jugendmedientage, die sie drei Jahre lang leitete. Dann startete sie den Verein Medienfrauen Schweiz, um Frauen im Journalismus zu vernetzen. Diese Projekte existieren bis heute.
Sie arbeitete bei 3sat, im Moskau-Büro des Spiegels und in der russischsprachigen Redaktion des Radios Free Europe in Prag. Nach Praktika bei der Rundschau und der Arena arbeitete sie als freie Reporterin für «10 vor 10». Dann ein weiteres SRF-Praktikum, bis es 2019 so weit war: Als 28-Jährige übernahm sie die SRF-Korrespondenten-Stelle für die ehemalige Sowjetunion in Moskau. Sie war die erste Frau auf diesem Posten – und die jüngste SRF-Korrespondentin der Geschichte.
«Natürlich gibt es junge, engagierte Journalistinnen und Journalisten», sagt die ehemalige freie Russland-Korrespondentin Alexandra Stark, eine Wegbegleiterin von Luzia Tschirky, «aber so engagiert wie Luzia sehe ich wenige.» Sie habe stets zu denen gehört, die mitgestalten wollen und sich ihren Platz erkämpfen.
Mit ihrer Kriegsberichterstattung habe sie nun bewiesen, dass sie auch unter beängstigenden Umständen souverän arbeitet – und vor allem authentisch. Es mache etwas mit einem, wenn man sich ständig brutalen Bildern aussetzt. Das weiss Alexandra Stark aus Erfahrung. «Aber Luzia schafft die Balance zwischen Professionalität und Empathie. Das spürt man in ihrer Berichterstattung.» 2022 hat die Medienbranche sie zur Reporterin des Jahres gekürt, weil sie, so die Begründung, «mutig» und «ohne Berührungsängste», «klar und pointiert» und «schlicht beeindruckend» berichte.
Nicht wissen, was kommt
Im Kulturlokal Kreuz in Solothurn setzen sich die ersten Zuschauerinnen und Zuschauer auf ihre Plätze. Im Raum nebenan kann es Luzia Tschirky kaum fassen, dass so viele Menschen an einem Freitagabend Geld dafür ausgeben, sie reden zu hören. In den vergangenen Tagen hatte sie in Zürich gesprochen, in Basel, Bern und St.Gallen. Überall: ausverkaufte Säle. Nach einer Woche schaffte es «Live aus der Ukraine» auf den zweiten Platz der Sachbuch-Bestsellerliste. Die erste Auflage ist schon vergriffen, teilt der Verlag mit. Die zweite ist in Druck.
Mittlerweile wohnt Luzia Tschirky mit ihrem Mann und der einjährigen Tochter in Zürich. Für das Buch hatte sie sich eine Auszeit von der Arbeit genommen. Aber was folgt nach den Lesungen? Nach dem ganzen Trubel? Geht sie nun zurück zum SRF, zurück nach Moskau?
Ohne Arbeitsbewilligung dürfe sie nicht in Russland arbeiten, sagt sie. Das Gesuch sei seit zwei Jahren beim russischen Aussendepartement «in Bearbeitung». Eine inoffizielle Absage. Eine Russlandkorrespondentin, die nicht nach Russland kann? Unmöglich. Sie muss den Traumberuf aufgeben. Viel früher als beabsichtigt.
«Das ist mir unheimlich schwergefallen», sagt sie. «Dieser Job war alles für mich.» Aber die vergangenen Jahre hätten sie gelehrt, mutig zu sein, loszulassen und Verantwortung zu übernehmen. Also wagt sie etwas Neues: den Schritt in die Selbstständigkeit. Sie hoffe, weiterhin über den Krieg in der Ukraine berichten zu können. Gleichzeitig möchte sie in der Ausbildung tätig werden, sei es in den Medien, für Unternehmen, Behörden oder an Schulen. Sie habe noch keine konkreten Pläne.
Nicht wissen, was kommt – als eine, die stets wusste, was sie wollte, habe sie zunächst damit gehadert, sagt sie. Aber der Krieg habe ihre Sicht auf das Leben verändert, Prioritäten verschoben. «Ich habe viel mehr ans Sterben gedacht, als das in meinem Alter wohl normal ist. Und habe ganz tief drin begriffen: Wir haben nur dieses eine Leben.»
Erschienen am 10. Juni 2024 in den Zeitungen von CH Media.