Acht Jahre lang haben die Klimaseniorinnen für dieses Urteil gekämpft. Eine von ihnen ist die Asthmatikerin Bruna Molinari, die als Einzelklägerin nach Strassburg gereist ist.
Bruna Molinari hat noch tränennasse Augen, als sie im Parterre des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Stehen kommt. Getragen von Freudenrufen und Applaus ist sie soeben gemeinsam mit dem Vorstand der Klimaseniorinnen die Treppe vom Gerichtssaal hinuntergestiegen. Schon ging sie schier unter im Gedränge all der Medienleute, die ihr und ihren Mitstreiterinnen Kameras und Mikrofone entgegenstreckten. An diesem Vormittag in Strassburg wollen alle ein Stück von den Klimaseniorinnen. Alle wollen ihn aufzeichnen, diesen historischen Moment: Jetzt, per sofort, ist Klimaschutz ein Menschenrecht.
Der Verein Klimaseniorinnen hatte die Schweiz verklagt, weil diese zu wenig tue, um ältere Frauen vor den Folgen des Klimawandels zu schützen, konkret vor den häufigeren und intensiveren Hitzewellen. Das wurde nun von der obersten Instanz in Menschenrechtsfragen bestätigt.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, kurz EGMR, urteilte am Dienstag, dass die Schweiz Artikel 8 der Menschenrechtskonvention verletzt, nämlich das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens der Klimaseniorinnen. Weiter stellte der EGMR eine Verletzung von Artikel 6 fest, dem Recht auf Zugang zum Gericht. Denn in der Schweiz war keine Instanz auf die Klage der Seniorinnen überhaupt eingegangen.
Der Enkel ist stolz auf seine Nonna
An einen solchen Riesenerfolg habe sie nicht geglaubt, sagt Bruna Molinari nach der Urteilsverkündung. Kaum zu fassen! Die 82-jährige Südtessinerin spricht einen Mix aus Italienisch, Französisch und Deutsch. Sie sei den Klimaseniorinnen beigetreten, nicht für sich, sondern weil sie sich um die Zukunft ihrer Enkelkinder sorge. Ob diese stolz sind? «Weiss ich nicht», sagt Molinari, «fragen wir ihn doch. Milo! Vieni. Sei fiero di ta nonna?» Ein «Si!» kommt zurück vom zehnjährigen Blondschopf, der sein Gesicht gleich darauf verlegen in der Seite seiner Grossmutter vergräbt.
Bruna Molinari ist Klimaseniorin mit einer speziellen Rolle. Um sich möglichst breit abzusichern, hat der Verein nämlich ältere Frauen mit körperlichen Beschwerden gesucht, welche sich mit der Hitze verschlimmern. Frauen, die bereit waren, mit ihrem Namen und ihrer Geschichte hinzustehen und als Einzelperson die Schweiz zu verklagen. Bruna Molinari war bereit für diese Mission.
«Ich bin Asthmatikerin seit Geburt», sagt die Tessinerin. Zunächst hätten die schwach dosierten Inhalationssprays genügt, später musste sie auf die hochdosierten Mittel zurückgreifen. Mittlerweile ist Molinari auf ein elektronisches Asthmagerät angewiesen, mit dem sie dreimal am Tag zwanzig Minuten inhalieren muss. «Sonst komme ich nicht einmal mehr in meine Wohnung im zweiten Stock.» Je heisser es sei, desto schwerer falle das Atmen.
Die Einzelklägerinnen waren die Hoffnung der Klimaseniorinnen und von Greenpeace. Sie befürchteten, dass der Gerichtshof den Verein als Kläger abweisen könnte, weil Vereine keine individuelle Betroffenheit geltend machen können. Diese Lücke hätten die Einzelklägerinnen füllen sollen. Doch nun kam es ganz anders: Der EGMR liess den Verein als Kläger zu, die Einzelpersonen hingegen nicht. Ihre individuelle Betroffenheit sei zu schwach. Aber darauf zuckt Bruna Molinari nur mit den Schultern. Ein Sieg ist ein Sieg.
Urteil strahlt über die Schweiz hinaus
Es war das erste Mal überhaupt, dass ein internationales Gericht eine Klimaklage behandelte. Das macht das Urteil zu einem Leiturteil. Konkret: Die 46 Mitgliedstaaten des Europarats werden sich künftig danach richten müssen, Klägerinnen und Kläger aus diesen Staaten werden sich darauf berufen können. «Der Entscheid wird für Klimaklagen gegen Staaten und Unternehmen bedeutend sein», sagt Cordelia Bähr, die leitende Rechtsanwältin der Klimaseniorinnen.
Ingrid Ryser, die Informationschefin des Bundesamts für Justiz, das die Schweiz vertreten hat, spricht von einem «interessanten» Urteil: «Der Bund nimmt das ernst.» Es sei aber zu früh, um über konkrete Massnahmen zu spekulieren. Das Bundesamt für Justiz werde das umfangreiche Urteil nun analysieren und prüfen, welche Erkenntnisse daraus gezogen werden müssen.
Klar ist: Die Schweiz muss die Menschenrechtsverletzungen nun beheben und ihre Klimaziele nachbessern. Wie sie das tut, wird sich zeigen. Klimaanwältin Cordelia Bähr kündigt an: «Wir werden das sehr genau verfolgen.»
Der Kampagnen-Coup von Greenpeace
Nicht zuletzt ist der Erfolg am EGMR ein Kampagnen-Coup von Greenpeace, genauer von Klimaexperte Georg Klingler. Er hatte vor neun Jahren die Idee, einen Betroffenen-Verein zu gründen, nach dem Vorbild einer erfolgreichen Bürgerbewegung in den Niederlanden. Er liess Rechtsgutachten erstellen und Frauen mobilisieren.
Und nun, da er am EGMR in Strassburg steht und die Früchte seiner Arbeit erntet, kämpft er mit den Tränen. Es sei die Geschichte einer wunderschönen Partnerschaft, von Greenpeace angeschoben und dann begleitet. «Die Klimaseniorinnen sind eine wunderbare Gruppe von aktiven Menschen, die Tausende Freiwilligenstunden investieren, um unser Klima zu schützen.» Er wünsche sich nun, dass dieses Urteil als Katalysator über die Klimabewegung hinaus wirkt. Die Klimaseniorinnen werden jedenfalls weitermachen.