Die Chamerin Marianne Gysi hat bei einem Skiunfall vor zehn Jahren ihren rechten Arm und ihr rechtes Bein verloren. Wie kriegt man die Kontrolle übers Schicksal zurück?
Marianne Gysi hat keine Erinnerungen an den Tag, der ihr Leben für immer veränderte. Den Felsbrocken, der sie und einen anderen Skifahrer erfasste, kennt sie nur aus Erzählungen. Auch alles, was danach kam: Rega, Spital, Amputation, Koma. Alles eine grosse, schwarze Lücke.
Alles, bis auf diese Szene: «Meine Mama sass bei mir am Bettrand. Das war wohl wenige Tage, bevor ich aus dem Koma aufwachte. Sie sagte zu mir: ‹Wenn du willst, darfst du gehen.› Sie sagte, es sei in Ordnung. Sie werde sich um meine Familie kümmern.» Marianne Gysi sitzt im Bistro des Hallenbads Röhrliberg in Cham und blinzelt Tränen aus den Augen. «Und ich weiss noch, wie ich mir dachte: Nein. Ich will nicht gehen!»
Marianne Gysi war 47 Jahre alt, als sie zum zweiten Mal zur Welt kam. Am Ostersonntag, dem 20. April 2014, erwachte sie in einem neuen Körper. Ihr waren der rechte Arm und das rechte Bein amputiert worden. Anstatt Ellenbogen oder Knie war da: nichts.
Das Erwachen beschreibt Marianne Gysi als ruhig, fast unspektakulär. Wie das Erwachen aus einem normalen Schlaf. «Mir war nicht bewusst, dass ich hätte sterben können», sagt sie. Das habe sie erst realisiert, als sie sah, was ihre alles fehlte. Und wie dünn sie geworden sei.
Ein Pfleger schob sie im Rollstuhl auf die Dachterrasse des Unispitals Zürich. Es war warm, die Sonne schien, und sie bestellte einen Latte macchiato.
Ihr Mann und die beiden Kinder, damals 16 und 18 Jahre alt, seien perplex gewesen, dass sie wieder da sei, sagt Marianne Gysi, im Diesseits statt im Jenseits. Sie hatten ihre Frau und Mutter besuchen wollen, ganz normal, und erschraken, als das Bett leer war.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Gysi keine Ahnung, was die drei durchgemacht hatten. Wie lange war sie weg gewesen, vielleicht vierzehn Tage? Ihr Gefühl täuschte sie: Tatsächlich waren es sieben Wochen. Und sie wäre, wie sie später erfuhr, drei Tage später in eine Palliativklinik verlegt worden. Marianne Gysi lächelt. «Denen mussten wir dann ausrichten, dass ich doch nicht komme.»
Bassin statt Piste
Gleich beginnen im Hallenbad Röhrliberg die Kinderschwimmkurse. Marianne Gysi sitzt an einem Tisch beim Eingang, um ihre Augen ist noch der Abdruck der Schwimmbrille zu erkennen, die Haare sind noch leicht feucht. An Donnerstagen und am Wochenende schwimmt sie hier. Eine Stunde, zwei Kilometer, Rücken und Crawl. Der Bademeister kennt sie beim Vornamen.
Die Freude am Schwimmen hat sie während der achtmonatigen Reha gepackt. Vorher, sagt Gysi, konnte sie zwar schwimmen, klar, aber sie fand es langweilig, dieses «Plättlizählen». Im Wasser habe sie sich von Anfang an sicher gefühlt. Heute schwimmt sie auf derselben Bahn wie Schwimmerinnen und Schwimmer mit zwei Armen und zwei Beinen.
Einen Tag wie diesen hätte die Chamerin früher in den Bergen verbracht, statt im Schwimmbecken. Winter war ihre Lieblingsjahreszeit. Sie kam, wie sie sagt, quasi mit den Skiern an den Füssen zur Welt. Ob sie ihr altes Leben manchmal vermisst? Nicht unbedingt, sagt Gysi. Das Skifahren fehle ihr zwar hin und wieder, «aber so ist es halt jetzt». Das sagt sie immer wieder. Es isch jetz wie’s isch.
Die erste Skitour sollte die letzte sein
Bald jährt sich der Unfall zum zehnten Mal. Es geschah in Chamonix am Mont Blanc, abseits der Piste. Marianne Gysi war gemeinsam mit ihrem Mann Markus und weiteren Freeridern auf einer mehrtägigen Skitour, geleitet von zwei Bergführern.
Markus Gysi war schon öfter mit der Gruppe unterwegs gewesen. Sie selbst war das erste Mal dabei. In den Jahren vorher, als die Kinder noch kleiner waren, hatte sie sich nie getraut. Aber jetzt, endlich, wollte auch sie erleben, wovon alle schwärmten.
Marianne Gysi kann sich bruchstückhaft an die Tage vor dem Unfall erinnern. An eine dickflüssige, heisse Schoggi zum Beispiel. Oder daran, dass das Wetter immer schöner wurde. Dann kam der 7. März 2014, der letzte Tag der Tour, die achte und letzte Abfahrt.
Es war aussergewöhnlich warm. Die Gruppe traversierte einen schmalen Couloir, als sich weiter oben ein mehrere Kubikmeter grosser, tonnenschwerer Gesteinsbrocken löste und in die Tiefe donnerte. Er erfasste Marianne Gysi und einen anderen Freerider und begrub sie im Tiefschnee. Der Freerider starb noch auf der Unfallstelle. Marianne Gysi wurde mit lebensbedrohlichen Verletzungen ins Spital geflogen.
«Wir waren ineinander verrenkt, er und ich», sagt Gysi. «Er ist noch aufgestanden, sagte, ‹helft ihr, helft ihr!›, bevor er zusammenbrach und starb.» Das weiss sie, weil ihr Mann es ihr nach und nach erzählte. Er war hinter seiner Frau den Couloir traversiert. Und hatte alles mitansehen müssen.
So selbstständig wie möglich
Draussen vor dem Hallenbad steht Marianne Gysis Scooter, so etwas wie ein Golfwagen mit einem Sitz, einem Dach und vier Rädern mit Allwetterpneus. Sie parkiert ihn immer an derselben Stelle, dort, wo die warme Abluft des Hallenbads aus einem Schacht strömt. In der Kälte leert sich sonst der Akku schneller.
Der Scooter ist eins der Hilfsmittel, die es Marianne Gysi erlauben, im Alltag so selbstständig wie möglich zu sein. Anziehen, duschen, einkaufen, backen, Wäsche waschen, Tulpen stutzen, Tetrapacks aufschneiden, im Sommer in der Badi ein Buch lesen – das alles kann sie alleine.
Das hat aber seine Zeit gebraucht. Viele Reha-Stunden, viel Ehrgeiz, Tränen und zusammengebissene Zähne. Und die Unterstützung von Familie und Freunden. Im Jahr nach dem Unfall zog die Familie Gysi aus ihrem dreistöckigen Haus in Lindencham in eine rollstuhlgängige Viereinhalb-Zimmer-Wohnung in der Chamer Klostermatt, damit Marianne Gysi nicht mehr auf dem Hosenboden die Treppe runterrutschen musste.
Schicksalsschläge und die Umbrüche, die sie mit sich bringen, können Familien zerreissen. Marianne Gysi ist froh, solche Geschichten nur vom Hörensagen zu kennen. Sie habe ihrem Mann und den Kindern damals versprochen, ihr Bestes zu geben, um wieder auf die Beine zu kommen, sagt sie. «Und auch sie haben ihr Bestes gegeben.»
Nach dem Unfall hat Markus Gysi eine Website aufgesetzt, auf der er die Freunde und Verwandten der Familie über den Gesundheitszustand seiner Frau auf dem Laufenden hielt und ihre Erfolge teilte, zum Beispiel als sie zum ersten Mal wieder auf den Langlaufskis stand. Er schrieb schöne Sätze wie: «Wir haben gelernt [. . .] zufrieden zu sein, wenn Kleines gelingt, und nicht zu verzagen, wenn es Rückschläge gibt.»
Die Unterstützung all der Menschen, die sie regelmässig besuchten, Essen vorbeibrachten, sie an Termine fuhren und mit ihr Ausflüge unternahmen, diese Unterstützung war entscheidend, damit die Familie Gysi immer vorwärtsschauen konnte. Auf der Website schreibt Markus Gysi: «Ohne euch hätten wir zerbrechen können!»
Das Maximum rausholen
Massgebend waren auch die Physio-, Psycho- und Ergotherapeutinnen, die Logopädinnen, Prothetiker und Ärzte in der Reha-Klinik Bellikon. Sie haben Marianne Gysi geholfen, das Trauma zu verarbeiten, ein Körpergefühl zu entwickeln, Laufen zu lernen und sich zur Linkshänderin umzugewöhnen.
Für das «Stumeli», wie Gysi ihren Armstumpf nennt, hat der Armprothetiker eigens eine Manschette entworfen, an die sie ein 750-Gramm-Gewicht hängen kann. Das hilft ihr für eine gerade Haltung. Sie kann den Armstumpf weder bewegen noch fühlen, daher hätte es keinen Sinn gemacht, eine Armprothese zu fertigen.
Die Beinprothese liess Marianne Gysi bei ihrem letzten Besuch in Bellikon in den «Langlaufmodus» setzen, damit das Kniegelenk stoppt, wenn sie das Bein nach hinten streckt. Denn sie verbringt den Winter nicht nur im Hallenbad, sondern auch auf der Loipe. Zwei Wochen Langlaufcamp sind es dieses Jahr. Im Sommer folgen zwei Wochen Velofahren auf dem Tandem mit ihrem Mann, er hinten aufrecht sitzend, sie vorne liegend. Bald knacken sie die 20’000-Kilometer-Marke.
Man könnte sagen, Marianne Gysi hat sich zurück ins Leben gekämpft. Vielmehr hat sie sich aber ins Leben zurück gearbeitet. Sie hat sich vom Schicksal nicht brechen lassen und hat ihren neuen Körper angenommen, um das Maximum aus ihm herauszuholen.
Marianne Gysi ist so pragmatisch, dass es manchmal wirkt, als erzähle sie die Geschichte von jemand anderem. Als wäre sie eine Aussenstehende mit neutralem Blick auf kalte Fakten. Und nicht die Betroffene. Hat sie nie einen Groll gehegt? Gegen sich? Die Bergführer? Das Schicksal? Hat sie sich nie gefragt: «Warum ausgerechnet ich?»
Sie überlegt. Und sagt Nein. «Was würde mir das nützen?», fragt sie zurück und zuckt mit den Schultern. «Wir waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Shit happens.»
Trotzdem sagt sie später im Gespräch: «Manchmal denke ich, es wäre besser, ich wäre nie erwacht.» Und: «Ich habe mich vor kurzem bei Exit angemeldet.»
Die Kontrolle über das Schicksal
Das Leben mit nur einem funktionierenden Arm und einem Bein ist manchmal trotz aller Hilfsmittel, Tricks und Kniffe einfach nur mühsam. Manchmal dauere es Stunden, sagt Marianne Gysi, in die Prothese reinzukommen. Es sind Kleinigkeiten wie fettiges Essen oder unbeeinflussbare Tatsachen wie der Mondstand, die darüber entscheiden, ob sie an einem Tag selbstständig gehen kann oder nicht.
Vor allem sorgt sie sich aber um die Hand. Wegen der Arthrose. Marianne Gysis linke Hand muss die rechte Hand ersetzen. Und damit Aufgaben übernehmen und unnatürliche Bewegungen machen, die ihr schaden. Das sieht man an den verdickten Fingergelenken. Der Schmerz sei manchmal kaum zu ertragen, sagt die 57-Jährige. Vor allem aber: Wenn diese Hand mal nicht mehr funktioniert, geht gar nichts mehr. Sie könnte nicht mehr alleine auf die Toilette, sie könnte die Prothesen nicht alleine anziehen, sie könnte sich im Bett nicht einmal mehr aufrichten.
«Wenn die Hand nicht mehr will, bin ich gefangen in meinem Körper», sagt sie. Das habe sie bei Exit auch so geschrieben. Sie wäre «zu invalide», um ein lebenswertes Leben zu führen.
«Aber zum Glück überwiegen die guten Tage», sagt Marianne Gysi und lächelt schon wieder. Sie mache das Beste draus. Was bleibe ihr auch anderes? Es isch jetz wie’s isch.