Wie sollen wir den Nahostkonflikt an Schulen behandeln, Professor Gautschi? «Haltet euch an die Schulbücher»

Wie vermittelt man ein komplexes Thema wie den Gaza-Krieg Kindern und Jugendlichen? Der mehrfach ausgezeichnete Professor für Geschichtsvermittlung Peter Gautschi sagt: nicht in die Emotionsfalle tappen.

Peter Gautschi, was müssen Lehrpersonen tun, damit sich Schülerinnen und Schüler eigene Meinungen bilden können?

Der erste Schritt, und das ist schon sehr herausfordernd: Sie müssen das Interesse wecken. Es muss mir als Geschichtslehrer gelingen, dass die Schülerinnen und Schüler – egal ob in der Primar oder der Sek – ihren Blick öffnen und Fragen formulieren.

Und dann?

Zweitens muss ich die Geschichte ins Schulzimmer holen. Ich gebe den Schülerinnen und Schülern verschiedene Materialien aus verschiedenen Quellen. Ich zeige ihnen Bilder, bearbeite mit ihnen die Schulbücher, vergleiche Medienberichte oder lasse Zeitzeugen erzählen. So kommen im Schulzimmer viele Wissenspartikel zum Schweben. Im dritten Schritt muss ich die Lernenden dabei unterstützen, Sinn in diesem Durcheinander von Informationen, Blickwinkeln und Quellen zu finden.

Sinn im Durcheinander finden. Wie schaffen Sie das?

Indem wir die Wissenspartikel zu einer Geschichte verdichten. Wir bringen sie in eine logische Abfolge: vorher, nachher, Ursache, Wirkung.

Storytelling – Geschichtenerzählen – scheint im Unterricht wichtig zu sein. Was bringt das?

Indem die Schülerinnen und Schüler die Geschichte selber erzählen, wenn sie also, sagen wir, ein Mindmap machen, etwas schreiben oder ein Theaterstück aufführen, verknüpfen sie die Vergangenheit mit der Gegenwart und letztlich mit sich selbst. In diesem Prozess kommen sie zu ihrer Meinung, zu ihrem Urteil. Sie verknüpfen, was sie erfahren haben, und finden Antworten für sich.

Zur Person

Peter Gautschi, Professor für Geschichtsdidaktik
Peter Gautschi, Professor für Geschichtsdidaktik

Peter Gautschi leitet an der PH Luzern das Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen. Er wurde mehrfach ausgezeichnet als Autor von Lehrmitteln. 2023 erhielt er einen Ritterorden des französischen Aussendepartements für seine Verdienste rund um die Vermittlung der französisch-schweizerischen Geschichte. (lil)

Was sollten Lehrpersonen beachten, die den Nahostkonflikt im Unterricht behandeln wollen?

Wir müssen Distanz finden und dürfen nicht in die Emotionsfalle tappen. Zu viele Emotionen können den Lernprozess verunmöglichen. Im Geschichtsunterricht müssen Schülerinnen und Schüler die Chance erhalten, alles, was sie hören und lesen, in einen grösseren Zusammenhang zu stellen. Der Nahostkonflikt ist in den Lehrmitteln gut dokumentiert. Das ist es auch, was ich allen Lehrpersonen empfehlen würde: Haltet euch an die Schulbücher. Die werden in einem langen, ausbalancierten Prozess von der Wissenschaft, der Politik und der Praxis verhandelt. Da nehmen unzählige Leute Stellung und ringen um jeden Satz, um ein möglichst ausgewogenes Lehrmittel zu veröffentlichen.

Der Nahostkonflikt ist komplex, der Gaza-Krieg brutal, die Diskussionen emotional. Wie schaffen es Lehrpersonen, dem im Unterricht gerecht zu werden?

Auch bei schwierigen Themen gilt es, einfache Ziele zu setzen. Bei jedem Krieg ploppt zum Beispiel das Thema Flucht auf. Wir haben das Videogame «When we disappear» entwickelt, in dem die Schüler ein Mädchen auf seiner Flucht begleiten. Sie kommen immer wieder in Dilemmasituationen und müssen dem Mädchen beim Entscheiden helfen: Soll ich mich verstecken oder soll ich fliehen? Indem sich die Schülerinnen da reindenken, stecken sie gleich mitten in Themen wie etwa Zivilcourage, ohne dass sie die ganze Komplexität des Nahostkonflikts schon begriffen haben müssen. Lehrpersonen können über Games und Geschichten einen Zugang zum Phänomen «Nahostkonflikt» schaffen.

Wie schaffen es Lehrpersonen, politisch neutral zu unterrichten, was ja immer wieder – und jetzt besonders – gefordert wird?

Es gibt den sogenannten Beutelsbacher-Konsens, das ist etwas wie ein Berufsethos. Er umfasst drei Punkte. Der erste Punkt ist das Überwältigungsverbot. Eine Lehrerin darf ihre Meinung in der Klasse nicht so präsentieren, dass sie die Schülerinnen und Schüler überwältigt. Sie soll Materialien bereitstellen, dass ihre Schülerinnen und Schüler sich eine eigene Meinung bilden können.

Was, wenn die Schülerinnen und Schüler trotzdem nach ihrer Meinung fragen?

Dann darf die Lehrerin ihre Meinung sehr wohl äussern, muss sie aber als solche kennzeichnen. Die persönliche Meinung muss nachvollziehbar sein und auch abweichende, nachvollziehbare Meinungen aushalten.

Der zweite Punkt des Beutelsbacher-Konsenses …

… ist das Kontroversitätsgebot. Die Lehrerin soll etwas, was in der Gesellschaft auf einer wissenschaftlichen Basis kontrovers verhandelt wird, auch im Unterricht als kontroverse Diskussion zulassen. Nicht kontrovers ist zum Beispiel, dass die Hamas am 7. Oktober 2023 ein Massaker veranstaltet hat.

Wie lautet der dritte Punkt des Beutelsbacher-Konsenses?

Schülerorientierung. Die Fragen, die die Schülerinnen und Schüler stellen und die Fake News aus den sozialen Medien, denen sie begegnen, sollen im Unterricht behandelt werden. Die drei Konsens-Punkte auszubalancieren, ist eine Gratwanderung. Darauf bereiten wir die Lehrpersonen in der Ausbildung aber vor.


Erschienen in der Zuger Zeitung am 15. November 2023.