Abreissen, obwohl man sanieren könnte? Die Scheibensiedlung in Inwil soll Hochhäusern weichen, doch es ginge auch anders

Die Scheibensiedlung in Inwil bei Baar soll abgerissen werden. Es gehe nicht anders, sagten die Eigentümerinnen bisher. Doch es ist komplizierter. Wir legen alle Fakten auf den Tisch. Teil 1 unserer dreiteiligen Serie.

Zugegeben: besonders hübsch ist sie nicht, die Scheibensiedlung in Inwil. Und vielleicht wäre der eine oder die andere mit hiesigen Politikerinnen einig, wenn sie unter vorgehaltener Hand von einem «Schandfleck» reden.

Dass die markanten Betonbauten in Fachzeitschriften und der Presse national und international einst grösste Beachtung fanden und als beispielhaft gepriesen wurden, das ist längst vergessen.

Nun soll er weg, der «Schandfleck», und mit ihm die rund 600 Männer, Frauen und Kinder, die ihn bewohnen. An seine Stelle sollen Hochhäuser hin, 16 Stockwerke, Aussicht auf den See und die Rigi.

Sie sind aus Betonmodulen gebaut und farbige Sonnenstoren. Die Scheibensiedlung in Inwil bei Baar fasst 216 Wohnungen. Bilder: Stefan Kaiser (Baar, 10. 10. 2023)

Bauherrschaft gibt Narrativ vor

Die Eigentümerinnen scheinen sich ihre Strategie gut überlegt zu haben. Die Scheibenhäuser gehören zwei Pensionskassen: Eines gehört der BVK, der Personalvorsorge des Kantons Zürich, die anderen drei der Pensionskasse der V-Zug, deren Hauptsitz keine zwei Kilometer von den Scheiben entfernt liegt.

Schon früh haben sie versucht, möglichst viele Interessengruppen abzuholen, damit sich später niemand gegen den Abriss stellt. Sie haben Info- und Mitwirkungsanlässe organisiert und eine Website für das Projekt aufschalten lassen.

Nur: das Narrativ war von Beginn an von der Bauherrschaft vorgegeben und von der Gemeinde Baar gestützt. Es lautet: Die Scheiben müssen weg, und kein Weg führt daran vorbei.

Die Eigentümerinnen wollen die Scheiben in Inwil innert 15 Jahren etappenweise abreissen und durch Hochhäuser ersetzen. Aber ist ein Abriss wirklich nötig? Müsste es nicht auch anders gehen, gerade in Zeiten von Ressourcenknappheit, Klimawandel und steigenden Material- und Energiepreisen?

Lesen Sie auch: Das Interview mit der Eigentümerin PK V-Zug («Ein Werkarbeiter soll sich die Miete leisten können») und unsere Analyse (Das Dilemma mit den Nachkriegsbauten).

Zum Abriss freigeben, wenn man sanieren könnte

Die Scheiben in Inwil bei Baar gehören zu einer Generation von Siedlungsbauten, die in der Schweiz heute abgerissen und ersetzt werden.

Dabei ist nicht immer eindeutig, ob ein Abriss notwendig oder wünschenswert ist. «Baukultur ist Verhandlungssache», schreibt der Schweizer Heimatschutz. Architektinnen, Bauherrschaften, Denkmalschützer, Behörden und immer mehr auch die Bevölkerung streiten sich darüber, welche Gebäude abgerissen werden können oder müssen, welche als schön, hässlich, unpraktisch oder historisch wertvoll gelten, welche Ansprüche wir ans Wohnen stellen oder welche Rolle das Klima in dem Ganzen spielen soll.

Sollte man Gebäude abreissen dürfen, wenn man sie sanieren könnte? Geht es nicht sozialverträglicher, umweltfreundlicher? Wie gehen wir mit unserer Baugeschichte um?

Im kommenden Jahr wird das Baarer Stimmvolk voraussichtlich über das Projekt an der Rigistrasse abstimmen. Bis dahin müssen alle Fakten auf den Tisch. Warum das wichtig ist? Dafür gibt es mindestens drei Gründe. Aber fangen wir vorne an.

Die Scheibenhäuser in Inwil bei Baar sind typische Bauzeugen der Nachkriegszeit.
Die Scheibenhäuser in Inwil bei Baar sind typische Bauzeugen der Nachkriegszeit. Bild: Stefan Kaiser (Baar, 10. 10. 2023)

Was bisher geschah

Im Juli 2020 laden die Eigentümerinnen sechs Architekturteams zu einem Wettbewerb ein. Sie sollten Entwürfe erarbeiten, wie das Areal an der Rigistrasse aussehen könnte, wenn die Scheiben einmal beseitigt wären.

Im April 2021 steht das Siegerprojekt fest: Es sind vier Hochhäuser, entworfen vom Studio des einflussreichen Zürcher Architekten Peter Märkli, 53 Meter hoch, 15 und 16 Stockwerke, rundherum eine Parklandschaft, in der Mitte ein Lindenhof. Unter Fachleuten ist unbestritten, dass dies ein qualitätsvoller Entwurf ist.

Der Entwurf des Studios Märkli sieht vier quadratische Hochhäuser vor, von denen eines zu Inwil hin abgedreht steht. In ihrer Mitte fände sich ein Lindenhof.

Im Finale hatte sich das Studio Märkli gegen Oxid durchgesetzt, ein Architekturbüro aus Zürich. Die Jury hatte, wie sie schreibt, deren beiden Vorschläge für die vielversprechendsten gehalten.

Märkli versus Oxid, oder: Abriss versus Erhalt

Oxid Architektur hatte ein ungewöhnliches Projekt eingereicht: Anstatt Neubauten zu planen, wie es die Eigentümerinnen verlangt hatten, schlug Oxid als einziges Team vor, zwei der Scheiben zu ertüchtigen. Das Team um Oxid hatte es sich zum Ziel gemacht, die Siedlung so weit wie möglich als baukulturelles Erbe zu erhalten und graue Energie zu sparen. Das ist die Energie, die über den Lebenszyklus eines Gebäudes verbraucht wird – vom Rohstoffgewinn über den Bau bis zum Abriss.

Es wäre technisch möglich, alle vier Scheiben zu ertüchtigen, sagt der Architekt Yves Schihin, Mitinhaber von Oxid Architektur. Die Eigentümerinnen wünschen sich aber nebst den grossen Familienwohnungen, die es in den Scheiben bereits hat, auch kleinere Zwei- und Dreizimmerwohnungen. Sie sind auf dem Wohnungsmarkt immer mehr gefragt.

Darum hat das Team von Oxid in seinem Projekt vorgeschlagen, nur die beiden jüngeren Gebäude zu ertüchtigen und die älteren durch Holzbauten zu ersetzen. Alle Scheiben würden etwas länger, als sie jetzt sind. Den jüngeren beiden würden hölzerne Balkone angebaut.

Der Entwurf von Oxid Architektur sieht vor, die vorderste und die hinterste Scheibe zu sanieren und auszubauen und die beiden mittleren Scheiben mit Holzbauten zu ersetzen.

In einem Zwischenbericht lobt die Jury den Oxid-Entwurf als «überzeugend» und «teilweise bereits sehr detailliert», würdigte die «sorgfältige Analyse» und zeigte sich beeindruckt von der «Souveränität, der Akribie und Kohärenz der bisherigen Überlegungen». Im Schlussbericht schreibt die Jury, sie halte den Ansatz von Oxid für «sozialräumlich begrüssenswert» und «wirtschaftlich machbar».

Der Abriss gewinnt wegen schönerem Garten

Und doch habe der Entwurf von Oxid die Jury «nicht abschliessend überzeugt». Das Studio Märkli gewinnt. Unter anderem, weil Märkli in den Hochhäusern mehr Wohnungen unterbringen kann als Oxid – und damit mehr, als die Bauherrschaft in der Ausschreibung verlangt hatte. Das Hauptargument für das Studio Märkli und gegen Oxid ist aber ein anderes: Es sind die «städtebaulichen Qualitäten».

Einerseits hebt die Jury den Freiraum hervor. Beide Entwürfe wollen die Gartenfläche maximieren. In beiden ist ein Parkhaus vorgesehen, um die momentan zwischen den Scheiben gelegenen Parkplätze aufzuheben. Beim Vorschlag des Studios Märkli wäre der Garten aber grösser, weil es in die Höhe bauen will, Oxid in die Breite. Dadurch könne «ein durchfliessender Landschaftsraum geschaffen werden», schreibt die Jury. Sprich: Man kann zwischen den Hochhäusern hindurchsehen.

Weiter schreibt sie, die Hochhäuser würden sich «selbstverständlich» in den Kontext von Inwil einbinden. Sie hätten «das Potenzial, die Geschichte des Ortes zukunftsgerichtet weiterzuschreiben». Die Jury erörtert nicht weiter, warum sich ihrer Meinung nach vier Hochhäuser besser in einen Weiler integrieren lassen als die Siedlung, die dort seit fast 60 Jahren steht – oder wie die Geschichte genau weitergeschrieben werden soll.

Blick an die Rückfassaden der Scheibenhäuser in Richtung Zug und Baar.
Blick an die Rückfassaden der Scheibenhäuser in Richtung Zug und Baar.Bild: Stefan Kaiser (Baar, 10. 10. 2023)

«Der Weiler wird verschwinden»

Fachleute beschäftigten sich in der Folge mit dem Entscheid für den Abriss und gegen den Erhalt. Warum, fragt die Architektin Andrea Wiegelmann in einem Artikel des Fachverlags «espazium», bewertet die Jury den Freiraum «derart wichtig», obwohl man «in Inwil in allen Richtungen innert fünf Minuten im Grünen ist»?

Die vier geplanten Hochhäuser schaffen eine «eindeutige städtische Silhouette», schreibt Wiegelmann. Das bringe einen neuen Massstab in den Weiler und setze eine Entwicklung in Gang, die Inwil voraussichtlich vollständig in der Agglomeration Baar-Zug aufgehen lassen werde. Sie schreibt: «Der Weiler wird verschwinden.» Für einen zukunftsweisenden Umgang mit dem baulichen Erbe und unter ökologischen Gesichtspunkten müsse man, so Wiegelmann, sagen: «im Zweifelsfall für den Erhalt, zumal, wenn er so qualitätsvoll möglich ist».

Hierzu wissenswert: Die Scheibensiedlung in Inwil hatte als bedeutende Bauzeugin gegolten. Die Zuger Denkmalkommission hatte 2017 empfohlen, die Siedlung ins Inventar der geschützten Denkmäler aufzunehmen. «Dass die Scheibenhochhäuser nun trotzdem einer Neubebauung weichen sollen, hat da und dort verständlicherweise für Erstaunen und Proteste gesorgt», steht im Fachmagazin «baublatt».

In der Fachzeitschrift «werk, bauen+wohnen» fragt der Stadtpolitik-Professor Philippe Koch, ob ein qualitativ hochstehender Erhalt nicht grundsätzlich einem Totalersatz vorgezogen werden sollte; einerseits aus klimapolitischen Gründen, andererseits, um günstigen Wohnraum zu erhalten. In Ersatzneubauten wandle sich immer auch die Zusammensetzung der Bewohnenden, schreibt er, da haben Wenigverdienende das Nachsehen.

Unsere Zeitung hat mit verschiedenen Fachleuten gesprochen, mit Befürwortern und Gegnern des Projekts, mit unabhängigen Stimmen und mit solchen, die direkt betroffen sind.

Es zeigt sich: Der Umgang mit der Baugeschichte, der Umgang mit den Menschen, der Umgang mit dem Klima – das sind drei Gründe, warum es sich vertieft zu diskutieren lohnt, ob man Gebäude abreissen sollte, die man sanieren könnte. Ganz allgemein, aber eben auch hier, in diesem konkreten Fall in Inwil.

Inhaltsverzeichnis
  1. Die Baugeschichte: Schützenswert, doch ohne Schutz
  2. Die Umwelt: Im Zweifelsfall für den Erhalt
  3. Die Menschen: Eine Schicht muss weg, eine neue kommt hinzu

1. Die Baugeschichte
Schützenswert, doch ohne Schutz

«Damit ein Gebäude als Denkmal anerkannt wird, muss es nicht besonders ‹alt› oder besonders ‹schön› sein. Vielmehr muss es charakteristisch sein für seine Zeit und vor allem einen Erinnerungswert haben», steht im Denkmaljournal des Kantons Zug.

Schönheit und Alter sind nur zwei von vielen Faktoren, die den Denkmalwert eines Gebäudes ausmachen; auch der Standort eines Gebäudes ist wichtig, ebenso seine Funktion, Bauweise und Materialien, wie selten es ist oder welche gesellschaftlichen Ereignisse darin stattgefunden haben. So können Arbeiterhäuser, Fabriken oder Scheunen genauso Denkmäler sein wie Villen, Schlösser und Kirchen.

Um die Geschichte der Scheibenhäuser in Inwil zu verstehen, müssen wir zurück in die 60er-Jahre, ins Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Schweiz brummte die Wirtschaft, Leute vom Land zogen in die Städte und die Bevölkerung wuchs. Wohnungen wurden knapp. Die Lösung lautete: «Modernes Wohnen im Grünen», also Grosssiedlungen an den Stadträndern.

Sie ist wortwörtlich auf der grünen Wiese entstanden: Die Siedlung Peikert im Jahr 1969.
Sie ist wortwörtlich auf der grünen Wiese entstanden: Die Siedlung Peikert im Jahr 1969.Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Jules Vogt

Verzinki benötigte Wohnungen für ihre Arbeiter

Die vier Inwiler Scheibenhäuser gehören zu dieser Generation «Bauboom», wie etwa die Siedlung Alpenblick und die Siedlung Röhrliberg in Cham oder die Toblerone-Hochhäuser in Oberwil, um nur wenige zu nennen.

Die Scheibensiedlung ist nach den Zuger Architektenbrüdern Jost und Rainer Peikert benannt, welche die Häuser in den 1960er-Jahren entworfen haben. Die Pensionskasse der Verzinkerei Zug AG – die heutige V-Zug – hatte sie in Auftrag gegeben. Die «Verzinki» benötigte Wohnungen für ihre Arbeiter.

Die Peikert Bau AG, die unter dem Namen p-4 übrigens immer noch in Zug sitzt und von Rainer Peikerts Sohn Philipp geführt wird, baute die Siedlung nach dem eigens entwickelten Bausystem «W62».

Aus der Werbebroschüre der Firma Peikert, um 1967.
Aus der Werbebroschüre der Firma Peikert, um 1967.Kopie: p-4 AG
Wie Legosteine: Das Fassadenelement einer Scheibe wird montiert, um 1968.
Wie Legosteine: Das Fassadenelement einer Scheibe wird montiert, um 1968.Bild: p-4 AG

Wie mit anderen Bausystemen dieser Zeit konnten Betonmodule in einer Feldfabrik gleich auf der Baustelle vorgefertigt und innert zehn Monaten zusammengesteckt werden – wie Lego, wenn man so will. W62 brachte genau das, was die damalige Zeit verlangte: viel Wohnraum, und zwar schnell und günstig. «Made in Zug».

Eine wichtige bauliche Zeugin

Die Siedlung Peikert war die erste, die nach dem W62-System gebaut wurde. Sie befand sich im Inventar der schützenswerten Denkmäler des Kantons Zug, bis die Pensionskasse BVK, die die älteste der Scheiben besitzt, Anfang 2017 einen sogenannten Antrag auf Abklärung der Schutzwürdigkeit bei der kantonalen Denkmalpflege einreichte.

«Schützenswert» bedeutet nicht «geschützt»

Im Volksmund werden die denkmalpflegerischen Begriffe «schützenswert» und «denkmalgeschützt» gerne vermischt. Es handelt sich aber um verschiedene Rechtsstatus.

Das Amt für Denkmalpflege nimmt ein Gebäude im Inventar der schützenswerten Denkmäler auf, wenn es vermutet, dass es sich um ein schützenswertes Denkmal handeln könnte. Die tatsächliche Schutzwürdigkeit muss erst noch geklärt werden.

Wenn also eine Eigentümerin ein schützenswertes Gebäude umbauen oder abreissen will, muss sie einen entsprechenden Antrag ans Amt für Denkmalpflege stellen. Das Amt prüft, ob das Gebäude ins Inventar der geschützten Denkmäler aufgenommen werden soll oder nicht.

In einem 13-seitigen Fachbericht empfahl die Denkmalkommission damals, die ganze Siedlung Peikert unter Schutz zu stellen. Sie sei ein Pionierbau und eine wichtige bauliche Zeugin der Nachkriegsmoderne. Sie habe einen sehr hohen heimatkundlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Wert.

Sanierung «unverhältnismässig» – bis Oxid das Gegenteil bewies

Gleichzeitig liess die Kommission von externen Fachleuten eine Analyse anfertigen zur Bausubstanz der BVK-Scheibe. Die Analyse kam zum Schluss: Die Scheibe würde bei einer Sanierung ihren Denkmalwert verlieren. Also wurde sie – trotz ihres hohen Denkmalwerts – schlussendlich aus dem Inventar entlassen. Und mit ihr auch die drei Scheiben der V-Zug. Ohne weitere Abklärungen.

Es gab mehrere Gutachten, die schlussfolgerten, dass eine Sanierung der Scheiben unverhältnismässig wäre. Das Projekt von Oxid Architektur zeigt aber, wie eine Sanierung der Scheiben technisch und wirtschaftlich funktionieren kann. Es könnte Bausubstanz erhalten bleiben, und die Häuser wären gleich hoch und gleich ausgerichtet. So könnte zumindest ein Teil des Denkmalwerts bewahrt werden.

2. Die Umwelt
Im Zweifelsfall für den Erhalt

«Wie nachhaltig kann ein Ersatzneubau überhaupt sein, wenn dafür Gebäude weichen müssen, die gerade einmal 60 Jahre alt sind?» Diese Frage stellt die Architektin Andrea Wiegelmann in einem Fachartikel über den Abriss der Scheibensiedlung Inwil. «Würden wir heute […] die verbaute graue Energie berücksichtigen, könnten wir uns das gar nicht mehr leisten.» In ihrem Artikel wägt die Autorin die Interessen der Bauherrschaft und den Umweltschutz gegeneinander ab. Sie kommt zum Schluss, man müsse sich «im Zweifelsfall für den Erhalt» entscheiden, «zumal, wenn er so qualitätvoll möglich ist».

Die Eigentümerinnen der Scheiben schreiben auf der Website des Bauprojekts, ein Neubau verspreche eine «zeitgemässe Neugestaltung». Zeitgemäss in dem Sinne, dass der Neubau höchste Komfortansprüche befriedigt und möglichst viele Wohnungen auf möglichst wenig Platz unterbringt. Der minimale Landverbrauch ist einer der Gründe, warum sich die Jury für die Hochhäuser entschieden hat.

Graue Energie mitdenken

Ein Neubau, der über moderne Technologie verfügt, ist energieeffizienter als ein unsanierter Nachkriegsbau. Das ist unbestritten. Es klingt daher einleuchtend, alte Gebäude durch klimaneutrale, verdichtete Neubauten zu ersetzen. Aber das ist nur die halbe Rechnung.

Der Haken ist die graue Energie, also jene Energie, die im gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes anfällt. Vom Rohstoffgewinn über den Bau bis hin zum Abriss wird CO2 ausgestossen. Diese graue, verbaute Energie ist oft grösser als die Betriebsenergie eines Gebäudes. Bei Bauprojekten wird sie aber nur selten mitgedacht.

Wenn Bauherrschaften die graue Energie konsequent berücksichtigen würden (oder berücksichtigen müssten), würde sich die Energiebilanz von Neubauten radikal verändern. Und mit ihr die Abrisspraxis. Darauf pochen der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein sowie der Schweizer Heimatschutz.

Sie weisen darauf hin, dass die Bauwirtschaft für 40 Prozent der CO2-Emissionen in der Schweiz verantwortlich ist. Unter «zeitgemäss» verstehen sie eher «ressourcenschonend». Sie fordern ein Umdenken in der Politik und in der Baubranche.

Holz als nachhaltiges Baumaterial

Der Entwurf von Oxid Architektur erfüllt alle Punkte, die die Bauherrschaft im Wettbewerb gefordert hatte. Ebenso hält der Entwurf die Anforderungen an Schall- und Brandschutz, Statik und Rollstuhlgängigkeit ein.

Aus ökologischer Perspektive spricht zudem dafür: Oxid würde mit Holz bauen, einem nachwachsenden, wiederverwendbaren Rohstoff. Die Bauweise, die Oxid vorschlägt, ähnelt jener der Architektenbrüder Peikert, die damals die Scheibensiedlung entworfen haben.

Anstatt Beton- würde Oxid Holzmodule vorfertigen und auf der Baustelle zusammensetzen. Das bedeutet: schnelle Montage, kürzere Bauzeit, weniger CO2-Emissionen, weniger Lärm, frühere Mieteinnahmen.

3. Die Menschen
Eine Schicht muss weg, eine neue kommt hinzu

Das wohl einleuchtendste Argument für die vier Hochhäuser des Studios Märkli ist die Anzahl Wohnungen, die in den Hochhäusern untergebracht werden könnten. Gerade im von Wohnungsnot geplagten Zug. Die Eigentümerinnen hatten in ihrer Ausschreibung verlangt, dass die Architektenteams die Ausnützungsziffer von derzeit 0,9 auf 1,25 heben. Oxid kann 1,25 bieten. Märkli 1,4.

Die Gemeinde Baar hat mit der Bauherrschaft ausgehandelt, dass ein Drittel der 340 geplanten Wohnungen nach kantonalen Vorgaben preisgünstig sein sollen. Preisgünstig bedeutet: Die Eigentümerinnen dürfen mit den Mieten keinen Gewinn machen. Sie dürfen maximal kostendeckend sein.

Wie hoch die Mieten angesetzt werden, lässt sich erst sagen, wenn die genauen Bauprojekte vorliegen. Sie werden im Vergleich zu heute aber teurer. Heute zahlen einige langjährige Mieter rund 1500 Franken für eine Vierzimmerwohnung.

Eine Frau hängt Wäsche auf im Garten zwischen den Scheiben.
Eine Frau hängt Wäsche auf im Garten zwischen den Scheiben.Bild: Stefan Kaiser (Baar, 10. 10. 2023)
Die Erdgeschosse der Scheiben sind heute durchlässig. Hier befinden sich Veloparkplätze und Waschküchen.
Die Erdgeschosse der Scheiben sind heute durchlässig. Hier befinden sich Veloparkplätze und Waschküchen.Bild: Stefan Kaiser (Baar, 10. 10. 2023)

Weder Oxid noch Märkli befriedigen vollständig

Die Bauarbeiten für die Märkli-Hochhäuser beginnen frühestens 2027 und werden bis zu 15 Jahre dauern. Die Scheiben sollen nacheinander ersetzt werden, begonnen mit der Rigistrasse 163/165, die der BVK gehört.

Auch das Projekt von Oxid wäre für die momentanen Mieterinnen und Mieter unverträglich. Auch hier müssten sie für die Dauer der Bauarbeiten umziehen. Und auch die Mieten würden teurer. Die Bauzeit wäre aber kürzer und leiser, die Bauweise günstiger – die Mieten dereinst möglicherweise tiefer als in den Hochhäusern.

Die V-Zug und die BVK räumen den heutigen Bewohnenden ein Vormietrecht für die neuen Wohnungen ein. Das schreiben sie auf ihrer Website. Die Bewohnenden sollen, wenn möglich, innerhalb der Siedlung umziehen können, sagen die Eigentümerinnen. Sie haben eine Kontaktstelle geschaffen und wollen besonders für langjährige Mieter, ältere oder mobilitätseingeschränkte Personen Lösungen finden.

Wenigverdienende haben das Nachsehen

Tatsächlich werden die meisten wegziehen müssen. Dass diese Menschen dann wieder eine Wohnung in der Siedlung finden, die sie sich leisten können, ist für viele schwer zu glauben. Zum Beispiel für die ALG Baar, die dem Gemeinderat vor einem Jahr in einer Interpellation Fragen stellte bezüglich der Abrisspläne.

Auch Philippe Koch hinterfragt den Abriss der Scheiben. Er ist Professor für Stadtpolitik und urbane Prozesse an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften und ist nahe der Siedlung Peikert aufgewachsen. Er beschäftigt sich mit dem Abrissprojekt vor allem aus sozialer Perspektive. Er sagt: «Was bringen mehr Wohnungen, wenn die meisten sich die gar nicht leisten können?»

Wenn 30 Prozent der geplanten Wohnungen preisgünstig sein sollen, wie teuer, schreibt Koch in einem Fachmagazin, müssen die restlichen 70 Prozent sein, um die Renditeerwartungen zu befriedigen?

Bei Ersatzneubauten verändert sich immer der Mix der Bewohnenden, sagt Koch. «Wenigverdienende haben das Nachsehen.» Eine Schicht muss gehen, eine neue kommt hinzu.


Erschienen in der Zuger Zeitung am 11. Oktober 2023.