Der Schwimmverein Baar startete zum ersten Mal an der Junioren-EM – woher der plötzliche Erfolg?

Leo Verschooten und Selina Müller, 17 und 16 Jahre alt, können mit den besten Schwimmerinnen und Schwimmern Europas mithalten. Sie verhelfen dem Schwimmverein Baar zu nationaler Bedeutung.

Im schweizweiten Vergleich war der Schwimmverein Baar bisher eher unscheinbar. Er hat zwar immer wieder ein paar Talente hervorgebracht – die sind aber bald schon in professionellere Vereine gewechselt, etwa zu den Limmatsharks nach Zürich oder in den Schwimmclub Uster.

Doch jüngst machen eine Schwimmerin und ein Schwimmer aus Baar von sich reden: Selina Müller, 16, und Leo Verschooten, 17, gehören zu den Besten ihres Alters in der Schweiz und in Europa. Dank ihnen kann der SV Baar nun bei den Grossen mitreden.

Warum jetzt plötzlich? Was macht den SV Baar zur Talentschmiede? Klar ist: Talent allein ist zu wenig. Eine Annäherung.

Die ersten Baarer Schwimmer an einer Junioren-EM

Werden sie gefragt, wie sie sich als Schwimmerin und als Schwimmer selber beschreiben würden, drucksen Selina Müller und Leo Verschooten herum.

Richtet man dieselbe Frage an ihren Trainer Tobias Gross, folgt eine Liste an Eigenschaften, die er aufsagt, als hätte er sie einstudiert: Höflich, gebildet, ruhig, ausgeglichen, selbstständig, determiniert, überlegt, strukturiert, und – und das ist wohl das Wichtigste – intrinsisch motiviert. Tobias Gross, selber einst ein Leistungsschwimmer, hält viel von seinen Schützlingen.

Und das tut er zu Recht: Im vergangenen Jahr haben sich Selina Müller und Leo Verschooten für das Europäische Olympische Jugendfestival qualifiziert, und heuer sind sie die Ersten, die es in der Geschichte des SV Baar an die Junioren-Europameisterschaft (J-EM) in Belgrad geschafft haben. Das ist einer der bedeutendsten Wettkämpfe, an dem immer wieder spätere Weltmeister und Olympiasiegerinnen auf sich aufmerksam machen.

Leo Verschooten und Selina Müller an der Junioren-EM in Belgrad vom 4. bis zum 9. Juli 2023. Leo startete für sein Heimatland Belgien, Selina für die Schweiz.
Bild: Roldy Cueto Cabrera

Der athletische Schnelle …

Leo Verschooten ist ein eleganter, athletischer Schwimmer, sagt Trainer Gross, schnell und explosiv, Spezialist für die kurzen Distanzen. In seinem Herkunftsland Belgien hält er 19 Altersrekorde.

Seine Familie zog in die Stadt Zug, als er zwölf Jahre alt war. Er sei schon immer gerne geschwommen, sagt Leo, und er sei auch an kleineren Wettkämpfen gestartet. Damals sei er aber eigentlich der bessere Tennisspieler gewesen.

Einer seiner Lehrer hatte ihm ein Buch geschenkt, wie man sich Ziele setzt und sie erreicht. «Als ich das gelesen hatte, kam es mir vor, als könnte ich die Welt erobern», sagt Leo. «Dann hab ich mir gesagt: Okay, ich will das probieren. Jetzt werde ich Schwimmer.»

Leos Paradedisziplin sind die 50 Meter Crawl, die er in 22 Sekunden und 79 Hundertstel schwimmt. Mit dieser Zeit, seiner Bestzeit, zog er an der J-EM als Zweiter in den Final ein. Im Final kostete ihn aber ein Fehler beim Start ein paar Zehntelsekunden – vorbei der Traum von der Medaille. Er schlug als Fünfter an.

«Natürlich hat mich das angepisst», sagt Leo. Aber schon als er aus dem Becken gestiegen sei, habe er wieder lachen können. «Ich war ja doch immerhin der fünftbeste Sprinter Europas.» An der nächsten J-EM will Leo Verschooten aufs Podest. Und auch an den Olympischen Spielen 2028 wird man mit ihm rechnen müssen.

… die zähe Kämpferin …

Selina Müller ist eine vielseitige Schwimmerin, ausdauernd, schmerzresistent und extrem tough, sagt Trainer Tobias Gross. «Sie ist eine der härtesten Racerinnen, die ich je gesehen habe. Wenn du auf den letzten 50 Metern mit Selina gleichauf bist, dann guet Nacht am Sächsi. Sie frisst dich auf.»

Selina begann zu schwimmen, nachdem sie als Kind im Schwimmbad Lättich die Trainings des SV Baar beobachtet hatte. Sie wusste: Das will ich auch machen.

Nun ist sie eine von drei Schwimmerinnen ihres Jahrgangs, die die J-EM-Limite geknackt haben. Ihre Paradedisziplin sind die 400 Meter Lagen. Das heisst Delfin, Rücken, Brust, Crawl – von jeder Lage 100 Meter. Es ist eine der strengsten, schmerzhaftesten Disziplinen, die der Schwimmsport zu bieten hat. Selina braucht dafür 5 Minuten und 3 Sekunden.

An der J-EM schwamm sie solide im Bereich ihrer Bestzeit. Das ist bemerkenswert, weil sie in der Vorbereitung ihre Leistungen nicht hatte abrufen können. «Im Frühling hatte ich ein Down», sagt Selina. Sie habe ihren Rhythmus verloren und die Koordination. Ursache ungewiss. Es sei dann jeweils hart, trotzdem motiviert ins Training zu gehen und darauf zu vertrauen, dass es wieder gut kommt. «Disziplin ist in diesen Momenten alles. Es ist keine Option, nicht ins Training zu gehen.»

Trotz durchzogenem Frühling hat es Selina ins Nationalkader geschafft. Im kommenden Jahr will sie an den Schweizer Meisterschaften aufs Podest und an der J-EM in den Final.

… und der aktive Trainer

Unter den Verantwortlichen des SV Baar ist klar, dass die jüngsten Erfolge Tobias Gross zu verdanken sind. Seine Trainings und die Art, wie er seine Athleten pusht, bringen Baar vorwärts. Seit vier Jahren ist er hier Headcoach. Zuvor hat er acht Jahre lang die Elite des Schwimmvereins Basel trainiert.

Das sei etwas viel Lob für eine einzelne Person, sagt Gross hingegen. «Der SV Baar ist ein starkes Kollektiv mit tollen Coaches auf allen Stufen und dem besten Sportchef, den man haben kann.»

Seit vier Jahren gibt Tobias Gross in Baar Schwimmtrainings. Er war selber einst ein Leistungsschwimmer.
Bild: Boris Bürgisser

Zu Beginn jeder Saison sitzt Tobias Gross mit seinen Schwimmerinnen und Schwimmern hin und bespricht die Ziele, die sie gemeinsam erreichen wollen. In den vergangenen Jahren habe er sich als Trainer weiterentwickelt, sagt er. Früher hatte er einen allgemeineren Ansatz, heute geht er von den individuellen Stärken seiner Athleten aus. Und er setzt den Fokus für jeden Schwimmer, jede Schwimmerin auf eine einzige Disziplin. Auch wenn andere Trainer das für Schwachsinn halten.

«Warum sollte ich mit Leo harte, lange Serien trainieren, wenn so nur sein Speed kaputtgeht?», sagt Tobias Gross. Dasselbe gilt für Selina. Als Gross sah, dass sie im Training nicht müde wird und sie alle Lagen kann, war für ihn klar: Sie hat alles, was es für 400 Lagen braucht. «Und jetzt perfektionieren wir dieses Rennen.»

Wo andere die Augen verdrehen, nehmen Selina und Leo die Inputs des Trainers und setzen sie um. Das mache den Unterschied. «Ich zwinge niemanden, achtmal die Woche zu trainieren», sagt Trainer Gross. «Meine Güte, mach was mit deinem Leben. Aber wenn du an eine EM willst, dann kann ich dir die Schritte dorthin zeigen.»


Erschienen am 20. Juli 2023 in der Zuger Zeitung.