Er will die Fans von Daniele Gansers Vorträgen nicht mit Argumenten bombardieren, sondern ihnen seine Geschichte erzählen. Was treibt den ehemaligen Ganser-Jünger Dominik Schlegel an?
Früher war er selber einer von ihnen. Dominik Schlegel war 16 Jahre alt, als er täglich mehrere Stunden auf Youtube verbrachte und in jene Ecken des Internets geriet, wo alles grundsätzlich in Zweifel gezogen wird. Wo Misstrauen herrscht gegenüber den Medien, der Wissenschaft und der Politik. Wo es einen «Mainstream» gibt, gegen den man sich stellt, und eine «Elite», der man sich widersetzt. Wo nichts wahr ist – und alles möglich.
Heute ist Dominik Schlegel 26 Jahre alt und ein, wie er sagt, komplett neuer Mensch. Heute will er anderen zum Ausstieg verhelfen aus dieser Welt, in der Fakten keine Rolle mehr spielen. Und zwar mit Tee.
Anfang Februar steht Schlegel vor einem Eventlokal im solothurnischen Biberist, mit ihm rund zwanzig Menschen, einige von ihnen in ukrainische Flaggen gehüllt. Sie stehen hier draussen, eine Stunde bevor der Historiker und selbsternannte Friedensforscher Daniele Ganser im ausverkauften Saal seinen Vortrag beginnt. Das Thema: «Warum ist der Ukraine-Krieg ausgebrochen?»
Auf der Linie der russischen Propaganda
Mit seiner Vortragsreihe tourt Daniele Ganser derzeit durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. In allen Ländern stösst er auf massiven Widerstand: Politikerinnen, Antisemitismusbeauftragte, Parteien, Verbände und Religionsgemeinschaften wehren sich gegen die Auftritte; sie schreiben Protestbriefe und kündigen Demonstrationen an.
In Dortmund*, Nürnberg und Innsbruck wurden die Ganser-Vorträge untersagt. In anderen Städten, darunter Basel und Kreuzlingen, wurde ein Verbot diskutiert.
Und doch: Fast überall sind die Vorträge ausverkauft.
Ganser verbreitet darin die Idee, dass Russlands Invasion in die Ukraine zwar illegal sei und gegen das Völkerrecht verstosse, dass aber die Nato und «der Westen» den russischen Einmarsch provoziert hätten.
Insbesondere beharrt er darauf, dass die USA 2014 während der Maidan-Proteste in Kiew einen Putsch auf die ukrainische Regierung gesteuert hätten. (Wo Daniele Ganser recht hat und wo nicht, lesen Sie hier.) Diese Verschwörungstheorie verbreitet auch das russische Regime, und es nutzt sie als Legitimation für den Krieg.
Die Gruppe um Dominik Schlegel hat Thermoskannen und Teebeutel dabei. Auf den Flyern, die sie den Besuchern des Vortrags in Biberist in die Hand drücken, steht eine Einladung: «Wir trinken Tee. Mit Ihnen.» Mit dem Teeprotest habe die Gruppe versucht, die Besucherinnen abzufangen, bevor sie in den Vortragssaal gelangten, sagt Dominik Schlegel ein paar Wochen später in einem Stadtberner Café.
Der Grundsatz: friedlich, freundlich, kollegial statt konfrontativ. Er habe die Leute nicht mit Argumenten bombardieren wollen, sondern ihnen seine Geschichte erzählt. «Ich sagte, dass ich wüsste, wie es sei, wenn man gerne kritisch denkt. Und dass wir doch unsere Perspektiven austauschen könnten.»
Den Tee musste die Gruppe wieder wegschütten. Schlegel habe aber, wie er sagt, ein paar Gespräche führen können. «Es hat sich gelohnt für jeden Menschen, den wir dazu bringen konnten, schon nur in Betracht zu ziehen, dass Daniele Ganser zu immerhin einem kleinen Teil falsch liegen könnte.»
Putin ist «gut», die USA sind «böse»
Im Gymnasium ging Dominik Schlegel für ein Austauschsemester nach Russland, genauer nach Sibirien, in eine ländliche Gegend, in der sich auch ein Gasfeld des russischen Erdgasunternehmens Gazprom befindet. Das war 2012, er war 16 Jahre alt.
Mit seiner Gastfamilie habe er nie über Politik geredet, sagt Schlegel, und wahrscheinlich hätte er auch nicht viel davon verstanden. «Aber alle waren sehr patriotisch», sagt er. Das sei ihm geblieben. «Neben dem Unterricht hat mein Sportlehrer uns gezeigt, wie man Sturmgewehre zusammensetzt.»
2014 ging Dominik Schlegel ein zweites Mal nach Russland, um Bekannte zu besuchen. Er traf seinen ehemaligen Sportlehrer, der die Erzählung aus dem allgegenwärtigen Propaganda-Fernsehen übernommen hatte: Die Ukrainer seien Nazis, die Russland nun zurückdrängen müsse. Schlegel kaufte es ihm ab.
Wenige Monate zuvor hatte die ukrainische Bevölkerung auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew protestiert, weil die ukrainische Regierung überraschend erklärt hatte, ein geplantes Abkommen mit der EU doch nicht zu unterzeichnen.
Diese Proteste gingen als «Euromaidan» in die Geschichte ein. Sie eskalierten Mitte Februar 2014, als die Polizei mit so viel Gewalt gegen die Protestierenden vorging, dass über hundert Menschen starben. Der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch flüchtete, es wurde eine Übergangsregierung gebildet.
Gegen Ende der Proteste annektierte der russische Präsident Wladimir Putin die ukrainische Halbinsel Krim und liess russische Truppen in den Donbass einmarschieren. Sein Vorwand: Der Westen habe die Maidan-Proteste finanziert, und es gelte nun, angeblich bedrohte Russischsprechende in der Ostukraine zu schützen.
Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim begann der russisch-ukrainische Krieg. Sein bisheriger Höhepunkt ist die grosse Invasion vom 24. Februar 2022.
Einsamer Kampf gegen das System
Dominik Schlegel hatte die Russen äusserst gastfreundliche erlebt und hatte gelernt, dass die USA «böse» seien und Putin «gut». Er sei mit einer Abwehrhaltung zurück in die Schweiz gekommen, sagt er heute. Er konnte die hiesige Berichterstattung nicht mit seinen Erfahrungen in Einklang bringen. «Ich hatte das Gefühl, mich hier verteidigen zu müssen. Mich und Russland.»
Er entwickelte eine extreme Wut. Als er am Bahnhof Bern auf einen Stapel Pendlerzeitungen stiess, auf deren Frontseite Putin als Angreifer dargestellt wurde, hat ihn das rasend gemacht. «Am liebsten hätte ich den Stapel angezündet.» Schlegel legt das Gesicht in seine Hände und lacht gequält. «Heute ist mir das alles wahnsinnig peinlich.»
Die Videos von Daniele Ganser waren so etwas wie ein Zufluchtsort für den damals 18-jährigen Schlegel. Bei ihm habe er die besten Argumente gefunden in seinem einsamen Kampf gegen das System.
Er zettelte immer wieder Diskussionen an, so oft, bis ihm niemand mehr widersprechen mochte. «Ich war absolut überzeugt, dass mir niemand etwas sagen kann, weil ich alles durchschaue.» Politisch driftete er sehr weit nach rechts.
Die Uni war der Wendepunkt. Dominik Schlegel hat sich für ein Politik- und Medienwissenschaftsstudium eingeschrieben. Später hat er einen Master in Volkswirtschaft angehängt. «Das Studium hat mich gerettet», sagt er heute.
Dort habe er begriffen, dass es anstrengender ist, sich verlässliches, differenziertes Wissen anzueignen, als die Youtube-Videos suggeriert hatten. Als er von den neuen Ganser-Vorträgen erfuhr, fand er: «Mann, da muss man doch was machen.»
Ein paar E-Mails und Videocalls später stand er mit zwanzig Leuten und fünf Liter Tee in Biberist. In Basel am 28. April werden sie nochmals aufmarschieren.
Einstiegsdroge Ganser
Bei Daniele Ganser lernt man zu zweifeln. Er öffnet das Tor zu einer Welt, in der die Ideen immer verworrener werden und die Zweifel immer grösser. Das ist es, was sein Geschäftsmodell erfolgreich macht: Er ist so etwas wie die Einstiegsdroge in eine Sucht nach unterkomplexen Antworten, er bietet für fast jede politische Antigruppierung Anknüpfungspunkte. Und er tut das auf eine subtile Art.
Gansers Methode, wie sie der deutsche Professor und Experte für Verschwörungstheorien Michael Butter beschreibt, besteht darin, Suggestivfragen zu stellen, Zitate und Bildquellen aus dem Zusammenhang zu reissen und alles zu verschweigen, was nicht in seine Argumentation passt.
Berühmt geworden ist Daniele Ganser mit seinen Vorträgen zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001, die ihn seine Hochschulanstellung in Zürich kosteten. Seither hat er sich verschiedenen Krisen bedient, um daraus Kapital zu schlagen.
Ganser selbst bestreitet, Verschwörungstheorien zu verbreiten, schreibt Michael Butter. Er sage, er weise nur auf Ungereimtheiten hin. Er stelle nur Fragen.
Und es stimmt – auf eine Art. Daniele Ganser ist kein Hetzer, der die Menge aufwiegelt. In seinem Publikum sitzen neben Leuten aus der Truther-Bewegung zwar auch Reichsbürger, Neo-Nazis und Corona-Querdenker. Er macht sich mit ihnen aber nicht gemein.
Anders als ein Sekten-Guru, schreibt Michael Butter, gibt Ganser nicht explizit vor, was Sache ist. Im Gegenteil betont er, dass er das eben gerade nicht tue, sondern seiner Community helfe, sich selbst ein Urteil zu bilden. «Dass dieses Urteil nicht frei ist, leugnet er – und sie können oder wollen es nicht sehen.»
*Anmerkung
Die Stadt Dortmund hatte den Veranstaltungsvertrag mit Daniele Ganser aufgehoben. Laut deutschen Medien hat sich Ganser gewehrt und nun vor dem Oberverwaltungsgericht Münster Recht bekommen. Daniele Ganser darf am Montag, 27. März 2023 in der Dortmunder Westfalenhalle sprechen.