«Klimaseniorinnen versus Switzerland» heisst der Fall, den der europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Mittwoch behandelte. Nach einem jahrelangen Kampf vor Schweizer Gerichten wurden die Klimaseniorinnen nun angehört. Und ernstgenommen.
Ein paar Seniorinnen verklagen die Schweiz und die ganze Welt schaut zu. Am Mittwochmorgen versammelten sich Hunderte Männer und Frauen vor der Sicherheitspforte zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – ein Ansturm, wie man ihn hier nur in Ausnahmefällen sieht.
Der Fall «Klimaseniorinnen versus Switzerland» ist so einer. Es ist die erste Klimaklage überhaupt, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg verhandelt wird. Und das Medieninteresse ist enorm: Nach den Klimaseniorinnen schieben sich unzählige Radio-, Fernseh- und Zeitungsleute aus ganz Europa durch die Sicherheitskontrolle.
Der Mittwochmorgen ging früh los für die 45 Klimaseniorinnen und ihre 30 Unterstützer, die schon am Vortag mit dem Zug nach Strassburg gereist waren. Um 7.30 Uhr standen sie vor dem Gerichtshof für Fotos und Interviews bereit. Sie waren mit farbigen Papierblumen ausgestattet und hielten eine Girlande, auf jedem Fähnchen ein Buchstabe: «CLIMATE JUSTICE».
Die Schweiz mache zu wenig für den Klimaschutz
Die Aufregung war spürbar, doch die neun Vorstandsmitglieder sind routiniert im Umgang mit den Medien. Sie hatten Zeit zu üben: Sieben Jahre lang haben die Klimaseniorinnen mit der Unterstützung von Greenpeace ihre Klage durch alle Instanzen der Schweizer Gerichte gezogen. Sieben Jahre lang wurden ihre Anträge abgewiesen. Sieben Jahre lang haben sie Fragen von Journalisten beantwortet. Und nun stehen sie hier und wollen eine Antwort: Ist Klimaschutz ein Menschenrecht?
Der Verein Klimaseniorinnen Schweiz und vier Einzelklägerinnen klagen, weil ihrer Ansicht nach ihr Recht auf Leben und Gesundheit von den Hitzewellen bedroht ist, die wegen des Klimawandels immer häufiger werden.
Ältere Frauen sind von Hitzeextremen besonders betroffen: Sie erkranken und sterben häufiger an ihren Folgen als alle anderen Bevölkerungsgruppen. Dafür gibt es umfangreiche wissenschaftliche Evidenz. Die Klimaseniorinnen bezichtigen die Schweiz, zu wenig gegen die drohende Klimakatastrophe zu tun.
Die Verhandlung beginnt um 9.15 Uhr mit einer Klingel. Alle im Saal erheben sich und und jemand sagt «La Cour», um die 17 Richterinnen und Richter in ihren tiefblauen Roben anzukündigen. Sie schreiten in Einerreihe herein und setzen sich in Formation: Tschechien ganz links, Ungarn ganz rechts, dazwischen alle anderen Nationen, in der Mitte die irische Präsidentin.
Leiturteil hätte weitreichende Konsequenzen
Dass die Anhörung der Schweizer Klimaklage überhaupt hier in der Grossen Kammer stattfindet, zeigt, welche Bedeutung der Gerichtshof ihr beimisst. Eine zweite Klimaklage gegen Frankreich ist am selben Tag traktandiert. Eine dritte gegen Portugal und 32 andere Staaten folgt im Spätsommer.
Aufgrund dieser drei Klimaklagen wird der Gerichtshof definieren, ob und inwiefern er den Schutz vor dem Klimawandel künftig als Menschenrecht behandelt. Beobachter sprechen von einem Leiturteil, das weitreichende Folgen haben wird, weil sich die 46 Europarat-Staaten daran orientieren werden.
An der Anhörung nehmen beide Parteien Stellung zur Klage. Zuerst die Schweiz, vertreten von Anwälten des Bundesamts für Justiz; dann die Klimaseniorinnen, vertreten durch eine hochrangige britische Anwältin und einen ebenso hochrangigen britischen Anwalt.
Es geht um «victim status», «fair shares» und «carbon budgets», um das Pariser Abkommen, um Studien des Weltklimarats und um die Emissionsziele 2020, 2030 und 2050 – und darum, ob die Schweiz diese Ziele einhält oder nicht.
Dann stellen die Richterinnen und Richter Fragen an beide Parteien, für deren Beantwortung sie jeweils eine halbe Stunde Zeit erhalten. Diese Fragen hätten gezeigt, sagen mehrere Beobachterinnen, dass die Richter die Klimafrage ernst nähmen. Hätten sie es sich einfach machen wollen, hätten sie die Klage abgewiesen. Denn bisher sind Klimafragen den EGMR nichts angegangen.
Ob sich das mit der Klage der Klimaseniorinnen nun ändert, wird das Urteil zeigen müssen. Es wird frühestens im Herbst erwartet. Kommen die Richterinnen und Richter der Klage nach, müssten der Bundesrat und das Parlament die Menschenrechtsverletzung beheben. Der Gerichtshof kann dazu konkrete Anweisungen machen.
Eine Zeitenwende in der Menschenrechtsprechung?
Bis dahin gibt es mindestens zwei Knackpunkte zu klären, welche die Schweiz gegen die Klimaseniorinnen ins Feld geführt hat. Erstens der sogenannte Opferstatus: Die Klimaseniorinnen können, so die Schweiz, nicht genügend geltend machen, dass sie individuell von Hitzewellen betroffen sind.
Einerseits betreffen Hitzewellen uns alle, und wenn alle gleich betroffen sind, so die Argumentation der Schweiz, könne es keine individuell Betroffenen geben. Andererseits sei es nicht zulässig, Verletzungen geltend zu machen, die in Zukunft auftreten könnten.
Zweitens stellt sich die Frage der Territorialität. Die Klimaseniorinnen verlangen, dass die Schweiz auch Emissionen verringert, die im Ausland anfallen – etwa durch den Konsum oder durch Finanzströme. Die Schweiz findet, dafür sei sie nicht zuständig.
Der CO2-Ausstoss der Schweiz mache ohnehin nur einen Bruchteil des globalen Ausstosses aus. Die Schweiz stützt sich hier auf frühere Entscheide des EGMR, der äusserst zurückhaltend urteilt, wenn ein Land für etwas angeklagt ist, das nicht auf seinem eigenen Territorium geschah.
Ob eine solche Rechtsprechung zeitgemäss ist, bezweifeln Beobachterinnen vor Ort. Schliesslich ist der Klimawandel ein Problem, das sich nicht um nationale Grenzen schert.