Über 78’000 Ukrainerinnen und Ukrainer sind seit der russischen Invasion in die Schweiz geflüchtet. Einige sind zurückgekehrt, andere sind geblieben. Wir haben mit drei von ihnen geredet.
«Ich habe die Kinder aufgeweckt und ihnen gesagt, dass sie heute nicht in die Schule gehen. Der Krieg hat begonnen, habe ich gesagt, wir müssen in den Keller.»
Es war frühmorgens am 24. Februar 2022, russische Truppen hatten gerade die ukrainische Hauptstadt Kiew angegriffen. Ilona Malytska, ihr Mann und die beiden Kinder zogen sich ihre wärmsten Kleider an und gingen runter in den Keller ihres 20-stöckigen Wohnblocks.
Dort harrten sie mit vielen anderen Bewohnerinnen und Bewohnern acht Tage lang aus. Dann beschlossen sie, zu fliehen.
«Die Welt von Millionen Ukrainerinnen ist kollabiert», sagt Ilona Malytska ein knappes Jahr später per Videocall. Die 42-Jährige hat ihre Geschichte in einem Brief auf Englisch aufgeschrieben und liest ihn vor. «Wir alle wollten einfach unsere Kinder retten. Um jeden Preis.»
Zurückgekehrt, um ihrem Land zu helfen
Ihren Mann musste Ilona Malytska in der Ukraine zurücklassen, er durfte das Land nicht verlassen. Sie fuhr mit ihren Kindern und ihrer Mutter im Auto von der ukrainischen Grenze mehrere Tage lang durch Moldawien über Rumänien und Österreich nach München.
Dort holte ihr Bruder die Familie ab. «In dem Moment, als ich ihm die Autoschlüssel gab, fiel ich in einen tiefen Schlaf», sagt Ilona Malytska. «Ich wachte auf, da waren wir schon in der Schweiz und bogen gerade zum Haus meines Bruders ein.»
Ilona Malytska ist eine von rund acht Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern, die nach der russischen Invasion aus ihrem Land geflohen sind. Wie viele von ihnen auf ihrer Flucht die Schweiz erreicht haben, lässt sich nicht genau sagen. Was wir wissen: Beim Staatssekretariat für Migration (SEM) haben über 78’000 Menschen den Status S beantragt, über 75’000 hat das SEM gewährt.
Knapp 10’000 haben ihren Status S zurückgegeben, sind weitergezogen oder heimgekehrt, so wie Ilona Malytska. Sie ging im Juli in die Ukraine zurück, nachdem sie ihre Kinder bei ihrem Bruder in Horgen in Sicherheit gebracht hat.
Sie ist fest entschlossen, von Odessa aus ihren Landsleuten zu helfen. «Ich danke Gott und dem Universum jeden Tag für mein Leben und das meiner Kinder. Jetzt widme ich mein Leben meinem Land, meinen Leuten.»
Jetzt wohnt Ilona Malytska in einer Wohnung in Odessa, wiedervereint mit ihrem Mann. «Als ich zurückgekehrt bin, war die Ukraine ein komplett anderes Land», sagt sie. «Statt Häusern wurden Friedhöfe gebaut.»
Sie hat einen Bürojob gefunden, arbeitet fünf Tage die Woche. In ihrer Freizeit koordiniert sie humanitäre Hilfe für das etwa vier Autostunden entfernte Cherson, jene Hafenstadt, die seit mehreren Wochen unter massivem russischem Beschuss steht. In Odessa ist es ruhiger als in Cherson, trotzdem ist es ein Leben zwischen Raketenangriffen, Stromausfällen, Luftschutzkellern, knappem Wasser und Kälte.
Ilona Malytskas zehnjährige Tochter und ihre Mutter sind in Horgen geblieben, der siebzehnjährige Sohn ist nach Wales gezogen, um an der Cardiff Universität Betriebswirtschaft zu studieren. Der Vater hat seine Kinder nun ein Jahr lang nicht gesehen.
Am 15. April wollen sie sich in der Schweiz treffen. «Ich bin sicher, dass wir Frieden und Glück in die Ukraine zurückbringen können, und auch die Kinder. Sie sind die Zukunft und das Fundament jeder Nation.»
Die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer werden in ihr Heimatland zurückkehren, um ihre Familien und Freunde wiederzusehen, vermutet Ilona Malytska.
Die anderen, die nicht wiederkehren, seien jene, die nichts mehr haben, wofür es sich zurückzugehen lohnt. Oder aber: junge, unverheiratete Ukrainerinnen und Ukrainer, die ihr Unglück als Chance nutzen wollen. Wie zum Beispiel Sofiia Pylat und Alina Polonska.
«Je mehr ich mich verankerte, desto besser kam ich klar»
«Wenn der Krieg morgen vorbei wäre, würde ich zurückgehen», sagte Sofiia Pylat im vergangenen Sommer gegenüber unserer Zeitung. Damals war sie unsicher, ob sie ihr Ärztinnendiplom in der Schweiz registrieren lassen sollte. Mittlerweile hat sie das gemacht, wie sie in einem Café in Luzern erzählt.
Die 26-Jährige spricht fliessend Deutsch, darum ist sie in die Schweiz gekommen. Nach ihrer Ankunft Ende März wurde sie dem Kanton Luzern zugeteilt, verbrachte zuerst einige Wochen in einer Zivilschutzanlage, zog weiter in eine kantonale Unterkunft in Wolhusen, dann zu einer Gastfamilie.
Nach drei Wochen musste sie dort wieder ausziehen, sagt Sofiia Pylat, die Gastgeber brauchten das Zimmer für sich. «Helfen wollen und wirklich helfen sind zwei verschiedene Dinge», sagt sie ohne Vorwurf in der Stimme.
Seit Juni lebt Sofiia Pylat nun bei der Familie einer Schweizerin, die sie per Zufall im «Prostir» kennen gelernt hat, einem ukrainischen Kulturzentrum in der Stadt Luzern. Es ist im April 2022 entstanden. Mittlerweile treffen sich dort Ukrainerinnen für Deutschkurse und Yogastunden, zum Malen, Musizieren und Singen.
«Prostir» ist ukrainisch und heisst «Raum», und das ist es, was «Prostir» bieten will, sagt Sofiia Pylat: Raum, um sich zu begegnen, eine Struktur im Alltag und ein kulturelles Zuhause. Pylat verbringt viel Zeit dort; sie hilft mit, das Tagesprogramm zu organisieren, zweimal die Woche singt sie im Chor.
«Das ist gut für die Seele», sagt sie. «Ansonsten wäre ich wohl sehr alleine und depressiv.»
Der Chor setzt sich aus Ukrainerinnen und Ukrainern zusammen, die wegen des Kriegs ihre Heimat verliessen. Die meisten von ihnen sind professionelle Musikerinnen, es dürfen aber auch singbegeisterte Laien mitmachen. Sie singen unter anderem ukrainische Volks- und Weihnachtslieder und Werke westlicher Komponisten. Der Chor ist bereits mehrmals aufgetreten.
Sofiia Pylat scheint eine Frau zu sein, die sich durchschlagen kann, die Wehmut schnell überwindet und sich nach vorne arbeitet. «Im Sommer war ich viel emotionaler, ich habe meine Heimat vermisst, meine Freunde», sagt sie. «Je mehr ich mich hier in Luzern verankert habe, desto besser kam ich klar.»
Dass sie pragmatisch sei, stimme wohl, sagt sie. Sie sei schon früh selbstständig gewesen. Mit 16 ist sie aus ihrem Elternhaus in der Westukraine ausgezogen, um in Odessa zu studieren.
Sofiia Pylat fühlt sich wohl bei ihrer Gastfamilie, trotzdem möchte sie bald auf eigenen Beinen stehen. Die paar hundert Franken, die sie mit Übersetzen verdient, reichen dafür noch nicht. Sie sucht eine Stelle als Assistenzärztin. Bisher erfolglos – aber sie ist guter Dinge.
Der Weg nach Kiew wäre beschwerlich, gefährlich und teuer
Möglichst schnell auf eigenen Beinen stehen, das ist auch das Ziel von Alina Polonska. Die 21-Jährige kam im Frühling gemeinsam mit ihrer Mutter Yulia aus Kiew in den Kanton Zug. Sie kamen hier in einer Gastfamilie unter und schliefen ein halbes Jahr im selben Bett, bis beide entschieden: So geht es nicht weiter.
Auf Anfang Jahr haben Mutter und Tochter je eine neue Unterkunft gefunden, Yulia bei einer älteren Dame und Alina bei einem Paar.
Es gehe ihr gut, sagt Alina Polonska in einer Bar nahe des Zuger Bahnhofs. In fliessendem Englisch erzählt sie vom Deutsch-Intensivkurs, den sie dreimal pro Woche besucht und der ihr etwas zu schleppend vorangeht, wie sie ihre Tage füllt mit lernen, lesen, putzen und Bewerbungen schreiben.
Dann strahlt sie plötzlich und klingt etwas ungläubig, wenn sie sagt: «Ich habe jetzt sogar einen Freund!»
Sie habe ihn online kennen gelernt, den Benjamin, er kommt aus Schwyz. Alina Polonska habe eigentlich nur Freunde gesucht, die ihr die Schweizer Kultur näherbringen und sie in coole Bars mitnehmen.
Aber mit Benjamin habe es sofort «Klick» gemacht. Wahrscheinlich auch, weil er die Ukraine und weitere slawische oder baltische Länder schon mehrmals bereist hat. «Das Verrückte ist: Wir haben sogar einen gemeinsamen Freund in Kiew.»
Alina Polonska hat sich ein Netzwerk aufgebaut in und um Zug, sie kennt jetzt Leute in der ganzen Zentralschweiz. Die Luzerner Fasnacht am vergangenen Wochenende hat sie sich auch nicht entgehen lassen: Als Elfe verkleidet hat sie sich den Fritschi-Umzug angesehen. «Das war so cool! Ich wollte, dass es nie aufhört.»
Eine Bekannte, die in Luzern wohnt und ebenfalls aus der Ukraine stammt, spreche schon sehr gut Deutsch, sagt Alina Polonska. Sie habe im Service gearbeitet und so die Sprache im Umgang mit anderen Menschen gelernt. Das wolle sie jetzt auch tun, sagt Polonska. Sie habe zuerst gedacht, sie könne Deutschkurse absolvieren und dann als Journalistin arbeiten, wie sie das in Kiew getan hat.
Jetzt habe sie realisiert: Sie muss kleine Schritte machen, irgendwo anfangen, sich vernetzen. Sie habe sich sogar auf einer Internetseite angemeldet, um mit Hunden Gassi zu gehen. «Einfach um Geld zu verdienen. Ich will nicht mehr so abhängig sein.»
Nach Kiew zurückzukehren, komme für Alina Polonska momentan nicht infrage. Schon nur, weil der Weg dahin sehr beschwerlich, gefährlich und teuer wäre. Sie habe Freunde, die im Sommer zurückgekehrt sind und nun den Winter in der Stadt ausharren. Mit Raketenangriffen, Stromausfällen und Wassernot.
Ihre Freunde hätten sich an die Umstände in Kiew gewöhnt, zum Beispiel an die wenigen Stunden, in denen sie pro Tag Strom haben.
Alina Polonska wird ernst. «Ich möchte meine Freunde so gerne wiedersehen. Aber sie sagen mir: Bleib, wo du bist. Komm auf keinen Fall zurück.»
Publiziert am 24. Februar 2023 in den Zeitungen von CH Media.