Sie sind hochqualifiziert, aber finden keine passenden Jobs. Ukrainerinnen und Ukrainer in Zug haben es schwer, aus der Sozialhilfe rauszukommen. Warum das so ist.
Hanna Sokhatska und Yulia Levina kannten sich nicht, bevor ein Fotograf unserer Zeitung sie gemeinsam fotografierte.
Die beiden Frauen stammen aus unterschiedlichen Regionen der Ukraine. Die eine lehrte Englisch und Französisch an einer Hochschule und arbeitete für eine humanitäre NGO; die andere war im Marketing tätig in Unternehmen so verschieden wie Schmuckläden, Werbeagenturen, Cafés und Kosmetiklinien. Die eine ist Literaturwissenschafterin, die andere Managerin. Die eine lebte in Bakhmut, einer Stadt in der Donbassregion. Die andere lebte in Kiew, der ukrainischen Hauptstadt.
Das Einzige, was Hanna Sokhatska und Yulia Levina verbindet: Beide sind auf ihrer Flucht vor dem Krieg in Zug gelandet. Und beide entschieden, ihre Zeit hier weniger als notwendiges Leid und mehr als Chance zu sehen. Sie wollen versuchen, sich hier ein Leben aufzubauen. Denn was haben sie schon, sagen sie, wofür es sich zurückzukehren lohnt?
Nur Absagen oder keine Rückmeldungen
Hanna Sokhatska und Yulia Levina verschickten je Dutzende Bewerbungen. Zuerst auf Jobs, die ihrem Profil entsprachen, bis sie merkten: Die Ansprüche müssen runter. Bei den ausgeschriebenen Stellen sei die Konkurrenz zu gross, sagen sie, sie hätten nur Absagen oder gar keine Rückmeldungen erhalten. Und die Jobs, die unter der Hand weggehen, seien schwer zu kriegen, ohne die richtigen Leute zu kennen.
Also begann die Managerin Yulia Levina, die Kinder einer Steinhauser Familie zu hüten, manchmal zweimal wöchentlich, manchmal weniger. Und Hanna Sokhatska, die Sprachwissenschafterin, begann, Glace am Zugersee zu verkaufen. Zumindest bei schönem Wetter.
Hochqualifizierte Ukrainerinnen
«Für mich ist es frustrierend, wenn hochqualifizierte Frauen keine geeigneten Jobs finden», sagt Natalia Singer, die sich seit März freiwillig für geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer engagiert. Sie hat den Power Hub Zug* gegründet, wo sich Ukrainerinnen und Ukrainer mit S-Status melden können, wenn sie hier Arbeit suchen. Sie werden freiwilligen Mentorinnen und Mentoren zugeteilt, die sie beim Bewerbungsprozess unterstützen.
Über 60 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer in Zug haben einen Hochschulabschluss, wie Zahlen des Kantons Zug zeigen. Die meisten von ihnen sind Frauen. Weil sie auf dem Arbeitsmarkt den Schweizern und Expats aber unterliegen, arbeiten sie als Nannys, Verkäuferinnen, Serviererinnen oder als Aushilfen auf einem Bauernhof.
Das sei aber nicht die eigentliche Hürde, die Ukrainerinnen und Ukrainer nehmen müssen, wenn sie sich hier ein Leben aufbauen wollen, sagt Natalia Singer. Die Hürde sei das Geld. Oder vielmehr dessen Knappheit.
Tiefe Pensen und unregelmässige Löhne
«Als wir hierhin kamen, wussten wir nicht, dass es sich um eine der teuersten Regionen Europas handelt», sagt Yulia Levina.
Auf ihrer Flucht vor den russischen Bomben sind sie und ihre Tochter per Zufall auf das Inserat einer Gastfamilie in Steinhausen gestossen, die bereit war, sie aufzunehmen. Ende Jahr müssen sie auf Wunsch der Gastfamilie wieder ausziehen.
Das sei eigentlich auch in ihrem Sinne, sagt Yulia Levina, sie hätte gerne eine eigene Wohnung. «Aber wir können uns keine leisten.» Erst recht nicht, seit sie ihren Nanny-Job Anfang November künden musste.
Ähnlich geht es Hanna Sokhatska. Sie ist über Bekanntschaften per Zufall nach Zug gekommen. Als Glaceverkäuferin konnte sie nur bei schönem Wetter arbeiten, verdiente also mal knapp 1000, mal 2500 Franken im Monat. Mittlerweile arbeitet sie einzelne Schichten in einem Café.
Es ist wenig Geld, mit dem sich die beiden Frauen durchschlagen müssen. Und es ist unbeständig: In ihren tiefen Pensen und Stundenansätzen verdienen sie keine regelmässigen Löhne, mit denen sich ein Leben planen liesse.
Vom Lohn, den die beiden verdienen, bezahlen sie Lebensmittel, Kleidung, Hygieneartikel, ihre Gastfamilien, die Krankenkasse, den ÖV. Je nachdem, wie hoch der Lohn ist, beteiligt sich der Kanton Zug mit der Sozialhilfe mehr oder weniger an diesen Kosten.
Yulia Levina und Hanna Sokhatska sind ständig verunsichert, wie viel Geld ihnen am Ende des Monats bleibt.
Sozialhilfe ist das allerletzte Auffangnetz
Das hat mit den unregelmässigen Löhnen zu tun, aber auch mit dem Zuger Sozialhilfesystem. Es ist, wie in jedem anderen Kanton, kompliziert. Es folgt klaren Regeln, ist zuweilen aber brutal.
Als letztes Auffangnetz sorgt die Sozialhilfe dafür, die Existenz von Menschen in Not zu sichern. Und damit ist die blosse Existenz, das nackte Überleben gemeint: Die Sozialhilfe verhindert, dass Menschen verhungern.
Die Asylsozialhilfe setzt sich aus drei Teilen zusammen:
- Der Grundbedarf. Er umfasst das, was man zum Leben benötigt: Lebensmittel, Kleidung und Hygieneprodukte. Er beträgt pro Person monatlich rund 450 Franken.
- Die Krankenkasse. Der Kanton Zug versichert die Geflüchteten bei der CSS. Die medizinische Grundversorgung kostet pro Person monatlich rund 370 Franken.
- Die Wohnpauschale. Im Falle der Ukrainer und Ukrainerinnen entrichtet der Kanton Zug diese Pauschale direkt an die Kollektivunterkünfte (400 Franken pro Person) und Gastfamilien (250 bis 600 Franken).
- Situationsbedingte Leistungen. Auch SIL genannt. Hier sind die Kosten drin, die anfallen, wenn jemand mit dem ÖV zur Arbeit fährt oder auswärts essen muss oder eine Familie Kinderbetreuung braucht. Die SIL werden individuell berechnet.
Zusammengerechnet ist das der monatliche Bedarf, den jemand zum Überleben braucht.
258 S-Arbeitsbewilligungen im Kanton Zug
Wer Sozialhilfe bezieht, muss sich bemühen, die eigene Situation zu verbessern. Wer kann, muss sich also Arbeit suchen, auch wenn der Lohn nicht reicht, um die eigene Existenz zu sichern.
Es ist übrigens unüblich, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer direkt nach ihrer Ankunft in der Schweiz eine Arbeitsbewilligung beantragen können. Das hat mit dem Status S zu tun: Sie gelten als schutzbedürftig und haben das Recht, ohne Wartefrist erwerbstätig zu sein. Für die geflüchteten Menschen aus allen anderen Ländern gilt das nicht. Bis sie eine Arbeitsbewilligung erhalten, vergeht rund ein Jahr – wenn sie überhaupt eine kriegen.
Der Kanton Zug hat seit dem Frühling 258 Arbeitsbewilligungen für Menschen mit Status S ausgestellt.
Status S ist «rückkehrorientiert»
Im Falle der Ukrainerinnen und Ukrainer rechnen die Sachbearbeiter der Zuger Asyldienste Monat für Monat aus, wie weit das Einkommen die Sozialhilfe-Ausgaben deckt. Verdient eine Person genug, um den monatlichen Bedarf selber zu zahlen, stellt ihr der Kanton Zug die Krankenkassenprämie in Rechnung. Verdient eine Person weniger als den monatlichen Bedarf, erhält sie eine anteilsmässige Zahlung vom Kanton.
Es gibt einen sogenannten Einkommensfreibetrag. Je nachdem, wie hoch das Pensum einer Person ist, darf sie mehr oder weniger Geld als Freibetrag behalten, der nicht in die Sozialhilfe-Abrechnung einfliesst. Bei einem 40-Prozent-Job sind das 336 Franken. Ein Vermögen, um etwa eine Wohnung zu mieten oder ein Auto zu kaufen, lässt sich damit nicht anhäufen.
Für Yulia Levina und Hanna Sokhatska ist es schwierig, aus der Sozialhilfe heraus auf die eigenen Beine zu kommen. Ihr Frust: Wer bemüht ist, Arbeit zu finden und Deutsch zu lernen, ist nicht unbedingt besser gestellt als jene, die das nicht machen. Das hat auch damit zu tun, dass der Status S wie vom Bund vorgegeben «rückkehrorientiert» ist, dass also nie vorgesehen war, dass sich diese Menschen hier ein Leben aufbauen.
Wer es trotzdem versucht, muss erfahren: Der Weg aus dem Sozialsystem ist ein harter.
Publiziert am 26. November 2022 in der Zuger Zeitung.