Der Münchner Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer hatte als Kind eine gute Beziehung zu Ernst, seinem grossen Bruder. Als Erwachsene hatten Sie einander aber nichts mehr zu sagen. Ein Gespräch über Erstgeborene.
Ich bin die erstgeborene Schwester eines zwei Jahre jüngeren Bruders. Was wissen Sie über mich?
Wolfgang Schmidbauer: Nun, konkret weiss ich nichts. Aber ich habe Vermutungen.
Ach?
Wir Psychologen wissen, wo wir hinschauen müssen. Wir arbeiten mit Hypothesen, die wir mit Beobachtungen bestätigen oder entkräften.
Welche zum Beispiel?
Es ist zum Beispiel etwas ganz anderes, die grosse Schwester eines Bruders zu sein, als die grosse Schwester einer Schwester. Bruder-Schwester-Beziehungen sind in der Regel weniger durch Rivalität gekennzeichnet. Die Konkurrenz ist kleiner, weil sich beide einfacher ihre eigenen Nischen suchen können.
Weniger Rivalität? Was ist, wenn ich Ihnen sage, dass mein Bruder und ich uns weite Teile unserer Kindheit und Jugend heftig gestritten haben?
Streite sind ganz normal. Es ist ja eine grosse Illusion, die Eltern manchmal haben: Sie kriegen ein zweites Kind und erwarten, dass die beiden friedlich miteinander spielen. Dabei fängt der Stress beim zweiten Kind erst richtig an. In Ihrem Fall müssten wir uns fragen, worüber Sie und Ihr Bruder gestritten haben und ob das wirklich unverhältnismässig war.
Ich glaube, es waren Gerechtigkeitskämpfe. Einer von uns fühlte sich immer unfair behandelt. Ich hatte das Gefühl, er könne sich alles erlauben und ich müsse die Vernünftige sein. Die «Klügere», die nachgibt.
Ja, davon berichten viele Erstgeborene. Womöglich ist es sogar gut, dass Sie diese Rolle bekämpft haben, auch wenn das in Streiten endete.
Da wäre meine Mutter wohl anderer Meinung.
Verständlich. Aber heute haben Sie ein eher gutes Verhältnis zu Ihrem Bruder, stimmt’s?
Stimmt.
Eben. Riskant wird es eher, wenn die Eltern denken, oh, wie wunderbar hingebungsvoll sich die grosse, vernünftige Schwester um den kleinen Bruder kümmert. Das hat später Sprengkraft.
Warum?
Die aufopferungsvolle grosse Schwester lernt nicht, unbefangen mit Aggressionen oder Egoismus umzugehen. Sie verdrängt Wut, Neid und Eifersucht, vielleicht schämt sie sich für diese Gefühle und entwickelt einen Groll, für den sie kein Ventil hat. Solche Geschichten führen später im Erwachsenenleben oft zu einem Kontaktabbruch zwischen Geschwistern.
So ähnlich war es bei Ihnen, richtig? Ihr grosser Bruder hat als Erwachsener nie mehr wirklich auf Ihre Kontaktversuche reagiert. Seinetwegen haben Sie das Buch «Die Erstgeborenen» geschrieben.
Ja. Als er vor ein paar Jahren gestorben ist, habe ich in seinem Nachlass ein Fotoalbum seiner ersten Lebensjahre gefunden, aus der Zeit vor meiner Geburt. Ich hatte diese Fotos noch nie gesehen und war erstaunt, einen fröhlichen, blondlockigen Jungen darauf zu erkennen. Auf allen Kindheitsfotos, die ich von ihm bis dahin kannte, hatte er die Lippen zusammengepresst und die Stirn gerunzelt. Mein Bruder Ernst war als Kind und auch später als Erwachsener ein, nun ja, ernster Mensch. Als ich um seinen Tod trauerte und dieses Fotoalbum fand, traf sie mich wie ein Schlag: die Tragik der Erstgeborenen.
Sie schreiben: «Ich war unschuldig und doch der Täter. Ich hatte ihm etwas kaputtgemacht.» Wie meinen Sie das?
Ernst musste mir seine Kindheit opfern.
Ist das nicht etwas drastisch ausgedrückt?
Ich habe auf den Fotos gesehen, wie glücklich und offen, wie kindlich und verspielt er war. Und wie er sich verändert hat, als ich zur Welt kam. Es ist das Phänomen der modernen Kleinfamilie: Die Rolle des Erstgeborenen ist zuerst überoptimal, er hat zwei bewundernde Eltern, alles ist schön und neu und harmonisch. Dann kommt für den Erstgeborenen völlig unvorbereitet ein zweites Kind. Jetzt muss er sich mit seiner Reife auf das kleine Geschwister einstellen, die Rolle als Mittelpunkt der Familie aufgeben und seine spontanen Affekte und seine Selbstbezogenheit zurückbinden. Eine Riesenumstellung, erst recht für einen Zweijährigen. Das machte aus Ernst ein nachdenkliches, kontrolliertes und gewissenhaftes Kind. Darum ist Depression auch ein so wichtiges Thema bei Erstgeborenen.
Warum denn Depression?
Erstgeborene können die Aggression, die sie gegen das Geschwister verspüren, oft nicht verarbeiten. Vielleicht hätte Ernst – wie viele andere Erstgeborene – sich für einen schlechten Menschen gehalten, wenn er mir wehgetan hätte. Wenn er mich bestraft hätte, weil ich ihm, was weiss ich, sein Spielzeug weggenommen hatte.
Das zeigt doch eher, dass er Ihnen Sorge getragen hat. Ich habe meinen Bruder mal «versehentlich» von einer Mauer gestossen.
Flapsig formuliert: Wer alles richtig macht, wird nicht glücklich, sondern depressiv. Sie haben erkannt, dass es Ihnen nichts bringt, «die Klügere» zu spielen, und haben für Ihr Recht gekämpft, unvernünftig zu sein. Mein Bruder hingegen hat seine Gefühle zurückgesteckt – und liess als Erwachsener meine Einladungen irgendwann unbeantwortet. Ehrlicherweise habe ich auch nie nachgehakt. Nur einmal fragte ich meine Mutter, warum er sich zurückgezogen hatte. Sie antwortete: «Er sagt, du bist ein Blender.»
Nahmen Sie ihm das übel?
Nein. Ich beliess es dabei. Ich bin sicher, er meinte das nicht böse. Ich hab’s auch irgendwo verstanden. Wir waren so verschieden.
Sie schreiben in Ihrem Buch, es gebe «fundamentale Unterschiede zwischen Erstgeborenen und allen anderen Geschwisteroptionen». Gleichzeitig sind diese Unterschiede statistisch offenbar nicht nachweisbar.
Das Wesentliche des menschlichen Verhaltens lässt sich nicht in Zahlen fassen. Bei psychologischen Statistiken denke ich immer an die Antwort des Lyrikers Robert Frost auf die Frage: «Was ist Poesie?»
Die da lautet?
«What gets lost in translation!» In der Psychologie ist es dasselbe: Was ist eine Persönlichkeit? Das, was in der Statistik verloren geht!
Das müssen Sie erklären.
Die quantitative Statistik arbeitet mit Persönlichkeitstest. Eine Anzahl Menschen beantwortet Fragen, sei es in Interviews oder mit Ankreuzen auf einem Fragebogen. Selbst wenn die Fragen gut gestellt sind und die Befragten ehrlich antworten, lassen sich mit solchen Tests unterbewusste Prozesse nicht erfassen. Etwa Abwehr, Verdrängung, Scham oder Schuld. Viele Menschen realisieren solche Gefühle erst, wenn ihnen ein Therapeut hilft, ihr Verhalten zu hinterfragen. Es ist auch massgebend, wie viele Jahre zwischen den Geburten liegen, welche Geschlechter die Geschwister haben, wie sich die Paarbeziehung der Eltern gestaltet und so weiter. Die statistischen Instrumente sind nicht fein genug, um diese dynamischen Unterschiede aufzuspüren.
Und das geht nur mithilfe von Therapie?
Womöglich. Wir als Psychoanalytiker schwimmen in einem Meer von Geschichten, in denen es um Liebe und Enttäuschung, Angst, Wut und Neid geht. Wir rekonstruieren verdrängte Kindheitssituationen, die das Leben des Erwachsenen erschweren. Wir identifizieren uns mit den handelnden Personen, kommen ihnen näher, erreichen sie – oder auch nicht.
Hätten Sie und ihr Bruder sich in einem Persönlichkeitstest stark unterschieden?
Ich glaube nicht. Es gibt ja auch viele Gründe, warum sich Geschwister ähnlich sind: dieselben Eltern, dieselbe Kultur, dasselbe soziale Milieu.
Gibt es denn gar nichts, was sich mit Hilfe der Statistik über Geschwisterkonstellationen herausfinden lässt?
Doch. Der Psychologe Walter Toman hat mit Statistiken bewiesen, dass Ehen länger halten, die eine Geschwisterkonstellation duplizieren. Wenn also der ältere Bruder einer Schwester die jüngere Schwester eines Bruders heiratet, hat diese Ehe bessere Aussichten als eine zwischen zwei Erstgeborenen. Ein in der Kindheit erworbenes emotionales Repertoire erleichtert es, sich gegenseitig einzuschätzen. Aber Vorsicht: Es gibt in Familien keinen standardisierten Umgang mit Erstgeborenen. Manchmal bleibt das erste Kind der Thronerbe, und die Nachgeborenen beschweren sich später, sie hätten keine Chance gegen den Liebling der Eltern gehabt. Umgekehrt klagen erstgeborene Töchter häufig, sie seien nach der Geburt des zweiten Kindes unsichtbar geworden.
In Ihrem Buch arbeiten Sie nun die Bruderbeziehung zu Ernst auf. Warum war Ihnen das wichtig?
Es ist meine Art, Verlust zu bewältigen. Und es hilft. Plötzlich ist mir klar geworden, dass ich mich mit meinem Bruder identifizieren kann. Auf einmal konnte ich mich aus seiner Perspektive wahrnehmen. Das war ganz neu für mich.
War das etwas Versöhnliches? Oder haben Sie sich eher eine Schuld aufgeladen, von der Sie vorher nicht einmal wussten, dass es sie gab?
Das ist falsch gefragt. Ich habe eine Schuld erkannt, die ich vorher verdrängt hatte. Ja. Aber das hatte nichts Belastendes.
Warum nicht?
Ich empfinde eher Dankbarkeit für sein Opfer. Es ist befreiend, die Tragik im Leben zu akzeptieren. Denken wir an den Tod: Wir alle müssen sterben. Das ist ein Fakt. Warum sollten wir uns davon verrückt machen lassen? Ich habe meinen Bruder zur Seite gedrängt. Für ihn muss das schlimm gewesen sein. Das weiss ich jetzt. Ändern kann ich daran nichts. Ich glaube, man kann das so stehen lassen.