Der Internethumor folgt eigenartigen Dynamiken. In den vergangenen Tagen erschienen unzählige ironische Beiträge über Kamala Harris. Sie könnten für ihren Wahlkampf bedeutend sein.
Kamala Harris hat gerade eine super Zeit im Internet, und sie tut nicht einmal viel dafür. Wer in den letzten Tagen online war, hat sie vielleicht gesehen, die Reels, Memes und wie diese Beiträge sonst noch heissen. Es sind zusammenhangslose Videos, hinterlegt mit Clubmusik, in denen Harris lacht oder tanzt oder beides gleichzeitig tut. Irgendwie taucht auch immer wieder giftgrüne Farbe auf. Und dann sind da Kokosnüsse. Viele Kokosnüsse.
Was in den sozialen Netzwerken – vor allem auf X, Instagram und Tiktok – gerade ohne Kamala Harris’ Zutun passiert, ist ein Lehrstück für die Funktionsweise der Internetkultur. Irgendwelche Leute machen alberne Film- oder Fotocollagen, aber nicht, um Harris damit lächerlich zu machen. Sie drücken damit ihren Respekt aus. In dieser Welt ist alles ironisch und nichts macht Sinn. Es gilt gar: je ironischer und unsinniger, desto besser.
Wahrscheinlich muss man Teil davon sein, um diesen Humor wirklich zu verstehen. Oder um ihn lustig zu finden. Aber falls diese Onlinedynamiken Kamala Harris’ Wahlkampf einen Schub verleihen, sind sie eben doch relevant. Gewinnt man Wahlkämpfe heute mit Memes? Ein Erklärungsversuch.
Meme-Welle nahm Anfang Juli Fahrt auf
Einer derjenigen, welche die Harris-Meme-Welle losgetreten haben, ist der 22-jährige College-Student Ryan Long. Er hat Anfang Juli ein Video auf X gepostet, einen wirren Zusammenschnitt «ikonischer Kamala-Momente», wie es im Internetjargon heisst. Es zeigt exemplarisch, wie seltsam diese Beiträge sind.
Harris steht hinter einem Rednerpult und sagt kichernd: «Denkt ihr, ihr seid einfach von einer Kokospalme gefallen?» Es folgen Videoschnipsel aus Interviews, von ungezügelten Lachern und Flashmobtänzen. Dazwischen erscheint immer wieder das Wort «brat» auf giftgrünem Hintergrund. Irgendwann in der Mitte bekennt Harris ihre Liebe zu Venn-Diagrammen («diese drei Kreise haben einfach etwas»). Hinterlegt ist das Ganze mit einem Remix des Songs «Von dutch» der britischen Popsängerin Charli XCX.
So, damit sind alle wichtigen Punkte angeschnitten. Sind Sie verwirrter als vorher? Verständlich. Nun der Reihe nach.
Was ist mit diesen Kokosnüssen?
Das Zitat mit den Kokospalmen stammt aus einer Rede, die Harris 2023 im Weissen Haus hielt. Sie betonte darin, wie wichtig es sei, auf die Lehren der Vorfahren zu bauen. «Keiner von uns lebt in einem Vakuum», sagte sie. «Meine Mutter pflegte mit uns zu schimpfen: ‹Ich weiss nicht, was mit euch jungen Leuten los ist. Denkt ihr, ihr seid einfach von einer Kokospalme gefallen?›» Damit gemeint habe sie: «Ihr existiert im Kontext von allem, was ihr erlebt und was euch vorausgegangen ist.»
Tja, und jetzt, seit Harris als neue Präsidentschaftskandidatin gehandelt wird, sind überall Kokosnuss- und Palmenemojis zu sehen. Und zwar nicht nur in den Humor-Nischen des Internets. Auch zahlreiche Demokraten nutzten Kokospalmen, um ihre Unterstützung für Harris auf X kundzutun. Der hawaiianische Senator Brian Schatz kletterte gar eine hinauf.
Was soll ein «brat» sein?
«Brat» bedeutet auf Deutsch etwa Göre oder Balg. Und es ist auch der Name des kürzlich erschienen Albums der britischen Popsängerin Charli XCX. Darauf zu hören sind Rave-angehauchte Clubsongs, die den weiblichen Hedonismus feiern. Auf dem Cover: «brat», in schwarzen Lettern auf giftgrünem Hintergrund.
«Brats» sind provokant, chaotisch, sprunghaft und trotzig. Vielleicht ist es unangemessen, die 59-jährige Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten so zu bezeichnen. Aber letzten Sonntag schrieb Charli XCX auf X: «kamala IS brat», als wolle sie entsprechende Gerüchte bestätigen. In diesem Zusammenhang ist das keine Beleidigung, sondern bedeutet: Sie ist eine von uns.
Das Internet schien einverstanden. Die «brat»-Ästhetik von Charli XCXs Album wurde nahtlos in die Memes integriert. Und Harris’ Team nahm sie, sehr clever, gleich in die Wahlkampagne auf. Damit ist Kamala Harris’ «bratification» offiziell. Sie mache diese Wahlkampfmonate zu ihrem «brat girl summer», wie es im Internet heisst, zu ihrem Gören-Sommer.
Warum Venn-Diagramme?
Ein Venn-Diagramm, benannt nach dem Erfinder John Venn, ist eine Illustration von zwei oder mehr Kreisen, die sich an einer Stelle überlappen. Es wird benutzt, um Schnittmengen zwischen zwei oder mehr Dingen darzustellen.
Dass die Vizepräsidentin Venn-Diagramme liebt, sagte sie schon 2022. Wörtlich: «Ich liebe Venn-Diagramme. Diese drei Kreise haben einfach etwas.» In gewissen Internetnischen geht sie wegen dieser Aussage seither immer wieder viral. Wie beim Kokoszitat gibt es keine logische Erklärung dafür. Auch hier muss diese reichen: Es ist ein schrulliges, aber sympathisches Zitat, das sich ironisch verwerten lässt. Wer hat schon eine ausdrückliche Vorliebe für irgendwelche Diagramme?
Harris’ Kampagnenteam hat die Gunst der Stunde jedenfalls genutzt und auch die Venn-Memes in ihre Arbeit aufgenommen. Vor zwei Tagen veröffentlichte es eine ironische Darstellung dessen, worin sich die Ziele von Joe Bidens und Kamala Harris überschneiden: darin, Donald Trump zur Rechenschaft zu ziehen.
Lassen sich Memes in Stimmen ummünzen?
So schnell und unvorhersehbar wie Memes viral gehen, können sie auch verschwinden. Harris’ Team kann eine Dynamik wie die der letzten Tage nicht beeinflussen. Im Gegenteil. Das Kampagnenteam kann einzig kontrollieren, wie es auf die Meme-Welle reagiert. Darauf zu surfen, erwies sich bis jetzt als die richtige Strategie.
Sogar die ehemalige Trump-Beraterin Alyssa Farah Griffith sagte in einem Fernsehinterview, sie sei überwältigt von Harris’ digitalem Auftritt. Sie habe es geschafft, trottelige Dinge so zu drehen, dass sie cool wirke. «Sie ist überall auf Tiktok. Trump ist nicht bereit dafür.»
Ist es also das, was über den Posten der mächtigsten Person der Welt entscheiden wird: ironische Internetbildchen?
Die US-amerikanische Zeitschrift Atlantic hat Experten diese Frage gestellt. Sie sagen: Die Jungen seien zwar eine kleine Wählergruppe, tendieren aber stark zu den Demokraten. Sie einzubinden, scheine besonders wichtig. Wenn auch nicht ausreichend. Soziale Netzwerke seien eher das Spiegelbild politischen Verhaltens, nicht dessen Ursache. Die Forschung hat bislang keinen Zusammenhang zwischen Onlineberühmtheit und Wahlergebnissen nachgewiesen.
Aber für ihre Internetfans ist Kamala Harris gerade der «Main Character», die Hauptfigur – wir andern besetzen bloss Nebenrollen. Mal sehen, was eine Göre gegen Trump ausrichten kann.