Die Walliser Fahnenschwingerin Isaline Wyssenbach ist mit ihren beiden «Böckli» vom Furkapass zwei Wochen zu Fuss ans Jodlerfest nach Zug gelaufen. Wir haben sie auf ihrer letzten Etappe in Unterägeri besucht.
«Jaa Gitzi, isch güet, Mami isch da!» Die beiden Geissböcke recken die Hälse, als Isaline Wyssenbach kurz aus ihrem Blickfeld verschwindet. Verdattert stecken sie ihre Mäuler zwischen den Gitterstäben hindurch, bis sie mit den Hörnern anschlagen. Ihre Chefin setzt sich wenige Schritte vom Stall entfernt auf einen Bauernstuhl und sagt, dass sie sich eigentlich gar nicht als Chefin ihrer kleinen Herde sieht.
«Wir sind alle ein bisschen Chef», sagt die 18-Jährige. Es ist Donnerstagmorgen, sie sitzt beim Bauernhof Wijermatt in Unterägeri und spricht Walliserdeutsch mit einem feinen französischen Akzent. Wenn sie mit Valais und Wallis – so heissen die beiden Böcke – im Dorf unterwegs ist, dann habe zwar schon sie das Kommando. Aber in den Bergen tauschen sie die Rollen. «Dort kennen sich die Böckli besser aus als ich», sagt Isaline Wyssenbach. Sie nennt ihre Gefährten abwechselnd «Gitzi», «Böckli» und «Geissu». Einmal haben sie ihr sogar das Leben gerettet.
Das war vor gut einem Jahr. Sie war mit Valais und Wallis auf einer 300 Kilometer langen Route von Crans-Montana (VS) nach Sargans (SG) unterwegs. Plötzlich seien die Böckli stehen geblieben und hätten nicht mehr auf Rufe reagiert. Isaline habe ihnen angesehen, dass sie Angst haben, und ging einige Schritte zurück. Sekunden später schlugen Steine auf dem Wanderweg auf. «Grosse Steine», sagt Isaline. «Dank den Geissen ist mir nichts passiert.»
Damals war das ungleiche Trio einen ganzen Monat unterwegs. Die diesjährige Route vom Furkapass nach Zug ist die dritte Reise, die sie gemeinsam unternehmen. Isaline hat zwei Wochen eingerechnet, doch sie kamen besser voran als gedacht – und machten kurzentschlossen einen Umweg übers Rütli, samt Schifffahrt nach Brunnen. «Wenn wir schon mal in der Region sind!»
Ambitionen als Fahnenschwingerin
Furkapass, Realp, Andermatt, Göschenen, Gurtnellen, Schattdorf, Bauen, Brunnen, dann über Unterägeri nach Zug. Steinschläge gab es auf dieser Reise glücklicherweise keine, sagt Isaline. Jetzt, ab Unterägeri, sind es nur noch drei Stunden bis nach Zug.
«Jeder Tag war ein Highlight!», sagt Isaline. Die Landschaft war schön, die Leute lieb, die Geissen fit. Besonders gefallen habe ihr der zweite Tag, als sie mit Valais und Wallis über die Teufelsbrücke die Schlucht passierte.
«Aber das grösste Highlight wird natürlich das Jodlerfest», sagt Isaline. Am Freitag und am Samstag wird sie als Fahnenschwingerin an zwei Wettkämpfen teilnehmen. Ihr Ziel sei es, sich in die Klasse 1 zu schwingen. Die Chancen sind intakt: 2022 gewann sie den Westschweizer Fahnenschwingerpreis, im April 2023 gewann sie nach einem Fehler in einer schwierigen Kombination immerhin den Schönschwinger Wanderpreis. Nach den Wettkämpfen läuft Isaline am Sonntag mit ihren Böckli den Festumzug mit.
Jede Nacht in einem anderen Stall
Normalerweise plant Isaline, wenn sie mit Valais und Wallis auf Reisen ist, am Vorabend die Route für den nächsten Tag. Den Zielpunkt legt sie jeweils irgendwohin, wo es Bauernhäuser hat. «Dann schaue ich, ob jemand da ist, und frage, ob sie ein kleines Plätzchen für uns hätten», sagt Isaline. In den allermeisten Fällen klappt das. Mittlerweile kennt sie Bauernfamilien in der ganzen Schweiz. Mit einigen hat sie immer noch Kontakt.
Den Schlafplatz in Unterägeri hat ein befreundeter Fahnenschwinger für sie organisiert, er kennt die Bauernfamilie von der Wijermatt. Am Abend hat sie dem Bauern geholfen, Holzscheite zu stapeln. Die Rinder im Stall scheinen sich über ihre neuen Freunde zu freuen.
Isaline schläft jede Nacht gemeinsam mit den Geissböcken im Stroh, so auch hier in Unterägeri. Wallis, der verschmustere der beiden Böcke, legt sich jeweils zu ihr. Sie sehe nicht ein, sagt sie, warum sie mehr Komfort haben sollte als ihre Gefährten. «Ich mache das Trekking ja freiwillig.» Sie grinst. «Die Geissu müssen einfach mitkommen.»
Nicht jeder Stall ist aber so komfortabel wie der hier, sagt Isaline. Manchmal schlafen sie auf Betonböden zwischen Spinnweben. Alter Stall, neuer Stall, das sei ihr egal. «Ich bin einfach froh, wenn wir ein trockenes Schlafplätzchen haben.»
Für Notfälle trägt Isaline ein Zelt im Rucksack, in das alle drei – Mensch, Geissbock, Geissbock – reinpassen. Sowieso, sagt Isaline, haben Valais und Wallis für sie oberste Priorität. Es sei ihr wichtig, dass die Böckli ihr zeigen, wann sie Pausen brauchen zum Fressen, Wiederkäuen und Schlafen. «Wir haben ja Zeit, und sie müssen es auch geniessen können.»
In ihren Satteltaschen tragen Valais und Wallis ihr Kraftfutter. Das macht je drei Kilogramm; etwa neun könnten sie tragen. Aber Isaline trägt lieber selber einen 16 Kilogramm schweren Rucksack, als ihren Geissböcken zu viel aufzuhalsen. Nur selten gehen sie mehr als 15 Kilometer pro Tag. «Wenn ich Schmerzen habe, ist mir das egal, aber den Tieren muss es gut gehen.»
Vom Metzger gekauft
Die Zwillinge Valais und Wallis wären nur drei Jahre alt geworden, hätte Isaline sie nicht vor der Schlachtbank gerettet. Dem Metzger zahlte sie den Fleischpreis, 300 Franken pro Bock. Einen bar, den anderen mit Wein. Ihr Vater ist Winzer. Heute sind die Böckli sechs Jahre alt. Ihr Ziel sei nun, jedes Jahr eine Trekkingtour zu machen. Dafür gibt sie ihre ganzen Ferien hin, die sie in der Lehre zur Detailhändlerin bei der Landi hat.
In Zug wird das Trio nun im Rüschenhof erwartet, wo sie am Wochenende übernachten werden. Wiederum im Stroh, und auch Isalines Freund wird dabei sein. Er kümmert sich um die Böckli, während sie ihre Fahne schwingt. Und er bringt die drei am Sonntagnachmittag wieder nach Hause: Isaline auf dem Beifahrersitz, Valais und Wallis im Anhänger.
Bis dahin ist aber noch Zeit. Nun, auf der Wijermatt in Unterägeri, macht Isaline ihre Böckli bereit für die letzte Etappe ihrer Reise: Halfter, Strick, Geissenschuhe. Dann glöckeln sie Richtung Zugerberg davon.